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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Carl führte sie die vollbepackten Treppen hoch in den dritten Stock, an eine Stelle, an der zwei Dutzend Pappschildchen aneinander im Regal lehnten. Das war Carls schlichtes System: Entliehene Videos ersetzte er durch ein solches Stück Pappe. „Alles weg, wie ich sagte. Ich habe zwanzig Kopien gezogen, und alle sind ausgeliehen. Ich muss wieder welche machen, sobald ich dazukomme.“
    Enene staunte. Aber mehr noch war er enttäuscht. Natürlich musste dieser Film nichts mit dem Phänomen zu tun haben, weswegen er nach Afrika zurückgekehrt war. Vermutlich handelte es sich um einen Zufall. Bei Tausenden von Horrorfilmen musste ja einer dabei sein, der ein ähnliches Thema aufgriff. Trotzdem hätte er das Video gerne gesehen, um sich selbst davon zu überzeugen.
    „Wie komme ich an den Film?“, fragte er.
    „Warten Sie hier, bis ihn jemand zurückbringt. Das kann in der nächsten Minute passieren. Freilich kann es auch Tage dauern – die Leihfrist ist eine Woche.“
    Enene musste wohl eine sehr unglückliche Miene gezogen haben, denn Carl klopfte ihm auf die Schulter und meinte: „Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Da existiert ein Kino, in dem er jeden Tag läuft.“
    „Wirklich? Wo ist es?“
    Carl lächelte und zeigte eine Menge Zahnlücken. „Tja, das ist das Dumme. Die Adresse fällt mir gerade nicht ein.“ Während des Redens öffnete er die rechte Hand. Enene begriff. Er zog dreitausend Naira aus der Tasche und drückte sie in die wartende Hand. Kaum hatte der Videohändler das Geld weggesteckt, kritzelte er schon eine Anschrift auf einen Notizzettel.

8
    Große Kinosäle wie in Europa gab es in Nigeria kaum. Unter einem Kino verstand man hier eine Stube, in die jemand einen Fernseher und ein paar Stühle gestellt hatte. Mehr als zwanzig Leute passten selten hinein.
    Ein solcher Ort verbarg sich auch hinter der Adresse, die Carl ihnen gegeben hatte. Neben der Tür eines einstöckigen, himmelblau gestrichenen Hauses klebte ein Plastikschild, auf die jemand mit Filzstift „blacker then black“ geschrieben hatte. Dr. Smith war nicht von Enenes Seite gewichen.
    „Sie haben Glück“, erklärte eine junge Frau, die den Eintritt kassierte. „Die Vorstellung hat eben erst begonnen.“ Enene wusste, dass sie das immer sagen würde, auch wenn der Film schon fast gelaufen war. Trotzdem hatte er keine Lust, bis zur nächsten Vorstellung zu warten. Er musste nicht unbedingt den ganzen Film sehen, um zu entscheiden, ob er ihm etwas brachte.
    Von einem drahtigen Kerl, der vermutlich der ältere Bruder des Mädchens war, wurden sie durch einen kurzen, schmutzigen Flur in ein dunkles Zimmer geführt. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Enene drei Stuhlreihen zu je fünf Stühlen ausmachen. In der hintersten waren gerade noch zwei Plätze frei. Das Fernsehbild war klein und scharf. Der Ton allerdings kam in übertriebener Lautstärke aus einem krächzenden Monolautsprecher. In dem Raum roch es unangenehm. Es gab keine Fenster und erst recht kein Belüftungssystem. Trotz der für Nigeria angenehmen Witterung hatte sich eine stickige Schwüle gebildet.
    Bald merkte Enene, dass in dem Film nicht gesprochen wurde. Eine enervierende, scheppernde Trommelmusik begleitete die seltsamen Bilder.
    Der Film hatte keine Handlung. Er zeigte Menschen, die in hautengen, rabenschwarzen Kostümen einen Tanz vollführten, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte. Auf dem Kopf trugen sie einen Schmuck, der dem Geweih der Hirsche ähnelte. Der Tanz war abgehackt und hektisch – die Schauspieler machten winzige sprunghafte Bewegungen. Zunächst bewunderte Enene ihre Geschicklichkeit, dann wurde ihm klar, dass diese blitzartigen Zuckungen nicht nur schwierig, sondern für Menschen vollkommen unmöglich waren.
    Es war also ein Trick im Spiel, und zwar ein ganz einfacher. Man hatte in bestimmten Abständen kleine Stückchen aus dem Film geschnitten. Außerdem hatte man den Kontrast so verstärkt, dass die Schwarzgekleideten manchmal tatsächlich wie flache, zweidimensionale Schatten wirkten.
    Die Menschen in dem Kinoraum starrten gebannt auf den winzigen Bildschirm, und einige wippten im schnellen Rhythmus der Musik mit. Schweiß glänzte auf den dunklen Gesichtern.
    Was sahen sie in diesem Film?
    Enene versuchte alle Gedanken auszusperren und sich auf die sinnliche Erfahrung des Streifens einzulassen. Das kratzende Trommeln klang wie elektronisch verfremdete Musik. Obwohl der Rhythmus ursprünglich und primitiv

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