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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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anmutete, hatte er dennoch etwas Modernes, Technisches an sich. Als wären es Maschinen, die die Trommeln schlugen – Maschinen, die außer Kontrolle geraten waren, keine computergesteuerten Meisterwerke der Technik, sondern einfache lärmende Apparaturen, die nicht mehr ganz rund liefen, die hakten, klemmten, Takte übersprangen. Die schnellen Schnitte hatten die Tänzer der Musik angepasst, und es war nicht zu entscheiden, ob sie die Sklaven der Rhythmen waren oder diese erst schufen.
    Im Raum war der Fernseher die einzige Lichtquelle, und so tanzten die Schatten nicht nur auf dem Bildschirm, sondern auch an den Wänden, und irgendwie war es den Filmemachern gelungen, ein kaum hörbares Echo in den Soundtrack einzubauen, das den Eindruck weckte, gleich im Nebenzimmer des Kinoraums hätte eine Waschmaschine den Verstand verloren und würde die Trommelfiguren mit leichten Abweichungen nachklappern.
    Es war gruselig. Und faszinierend. Es sah amateurhaft und spontan aus, und doch war es sehr akkurat gearbeitet.
    Die Tänzer bewegten sich nicht in der freien Natur, sondern vor dem Hintergrund industrieller Anlagen. Leerstehende Fabrikkomplexe, die Ruinen ehemaliger Elektrizitätswerke oder Ölraffinerien bildeten die Kulissen. Auch Müllberge dienten als Bühne für die Tanzvorstellungen, Autofriedhöfe, Schrottplätze. Der einzige Schauplatz, der nichts mit Technik zu tun hatte, war ein alter Friedhof, düster und verfallen, eingepfercht zwischen kahl emporragende Häuserwände. In dieser Szene wurde das Trommeln langsamer und langsamer, bis es an den allmählich einschlafenden Herzschlag eines Sterbenden erinnerte, doch die Schatten tanzten so hektisch wie zuvor.
    „Worum geht es eigentlich?“, wisperte ihm Smith zu, den der Film allem Anschein nach kalt ließ.
    „Die Schatten, die ich meine“, flüsterte Enene zurück. „So bewegen sie sich. Die Leute, die den Film gedreht haben, müssen sie wirklich gesehen haben.“ Und dann hatte er noch einen Gedanken, den er nicht aussprach. Er fand, dass er nie zuvor einen so afrikanischen Film gesehen hatte. Das Trommeln, der Rhythmus, das Schwarz und das Weiß, die Ekstase, die nicht aus dem Menschen selbst kam, sondern von der Maschine …
    Ja, es war ein Horrorfilm, keine Frage. Obwohl kein Blut floss, niemand getötet wurde, keine Hexen und Dämonen auftauchten, war er bedrohlich, irritierend. Dieser Film beschrieb eine afrikanische Angst, eine moderne Angst, die größer war als die vor Geistern und Zauberern. Die Angst vor der Maschine. Vor einer Maschine, die aus der Welt der Weißen kam, ein riesiger Mechanismus, der wuchs und wuchs und alles unterjochte, alles in seinen Rhythmus zwang. Eine Macht, die sie alle in Sklaven verwandeln würde, lange, nachdem die Sklaverei in der Welt abgeschafft worden war.
    Es war ein afrikanischer Albtraum. Die Schreckensvision eines Kontinents, dem man seit Jahrhunderten nicht mehr erlaubt hatte, er selbst zu sein.
    In Enenes Kopf vollführten Interpretationen und Gefühle in Fetzen einen wilden Reigen. Während die Tänze auf dem Bildschirm immer weitergingen und die Zuschauer ihren kalten Schweiß vergossen, beglückwünschte er sich dazu, nach Afrika gekommen zu sein. Hier, das wusste er plötzlich, würde er die Lösung des Rätsels finden. Während seine Kommilitonen und Lehrer in Deutschland und Japan unergiebigen Spuren nachjagten, hatte er auf Anhieb etwas gefunden. Das Problem der Schatten war ein afrikanisches Problem.
    Es waren schwarze Wesen, schwärzer als die schwärzesten Schwarzen des schwarzen Kontinents. Sie tanzten pseudo-afrikanische Tänze, schneller, ruckartiger, als Menschen das vermochten, doch sie waren leidenschaftslos, Marionetten einer mächtigen Maschinerie.
    Er wusste, was die Schatten waren. Er wusste nicht, wer sie waren, woher sie kamen, was sie wollten, aber er konnte ihre Essenz spüren. Ihre Essenz war Rhythmus. Technik. Tod.
    Blacker than black.
    Das alles hatte ihm der Film gezeigt.
    Enene wischte sich über die Stirn. Auch sein Schweiß war eisig. „Ich muss mit den Leuten reden, die diesen Film gemacht haben“, raunte er Smith zu.
    Dieser sah an ihm vorbei nach hinten, zur Tür. In der Dunkelheit war fast nichts zu sehen, doch die zuckende Helligkeit riss für Sekundenbruchteile eine Gestalt aus der Finsternis, die dort stand. Eine Frau. Enene hielt sie im ersten Moment für das Mädchen am Einlass. Doch diese Frau war kahlköpfig, und sie trug ein lappiges Kleid, wie eine

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