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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Ergebnissen flüssiger, schneller, runder, und als sich das Orakel dem Ende näherte, waren die knochigen Hände kaum mehr zu sehen, so flink jagten sie über das Brett. Bei alldem entfiel den Händen des Greises nicht ein einziges Mal eine der bohnengroßen Nüsse. Die gespannte Stille löste sich die ganze Zeit über nicht auf, und als das Ergebnis vollständig war, starrten Kinder wie Erwachsene gebannt auf den zahnlosen Mund des Babalawo .
    Dieser Mund begann nun ein Lied zu singen. Der Sprechgesang war schwer verständlich, aber Enenes Geist war vollkommen darauf konzentriert, und was ihm die Worte nicht enthüllten, enthüllte ihm die Stimme, die Melodie und die Blicke, mit denen der ehrenhafte Vater seines verräterischen Vaters ihn durchbohrte, als gäbe es für ihn mindestens in diesen Minuten nichts anderes auf der Welt zu sehen.
    Eweji sang von der Sehnsucht nach dem Geld, von dem Weg in die Fremde, von großen steinernen Schluchten, von Menschen, die bei ihrem Tod plötzlich feststellen mussten, dass sie sich nicht mehr an die Namen ihrer Ahnen erinnern konnten. Zunächst dachte Enene, die Worte bezögen sich auf das Ausland, auf jene Yoruba, die nach Europa oder Amerika ausgewandert waren. Doch dann begriff er, dass der Gesang von den Großstädten handelte.
    Ewejis Lied brach ab, und der Alte flüsterte in die Stille hinein: „Das Orakel sagt, du musst dich dorthin wenden, wo der Weise ein Dummkopf ist und der Dummkopf ein Weiser. Und der, den du finden wirst, ist wie du und dein Großvater. Die Antwort, die du suchst, wirst du nicht im Original finden. Sei zufrieden, wenn es eine blasse Kopie davon ist.“
    „Ich muss also in eine Stadt, so groß wie möglich“, murmelte Enene. „Eine Stadt, die Menschen anzieht und verändert. Das ist Lagos, kein Zweifel. Dort habe ich einen Schamanen zu finden, denn er muss sein wie mein Großvater und ich, und das ist es, was uns verbindet. Aber es darf kein kluger Mann sein.“ Er betrachtete die willkürlich erscheinenden Striche auf dem Orakelbrett. „Die Antwort auf meine Fragen … die Antwort auf das Rätsel der Schatten … liegt in den Händen eines Scharlatans?“
    Eweji erwiderte nichts. Das Orakel hatte gesprochen.
    Peinlich berührt sah sich Enene um. Zwei Dutzend Menschen hatten das Ifa beobachtet, aber keiner von ihnen kannte die Frage, die Enene gestellt hatte. Was meinte sein Großvater, wenn er sagte, er würde die Antwort nicht im Original finden? Von Gegenständen, von Objekten gab es Originale und Kopien. Aber von … Antworten?
    „Ich werde in Lagos nach dem Mann suchen, den das Orakel beschrieben hat“, erklärte Enene.
    Unvermittelt grinste Eweji. „Eine lange Suche wird kaum nötig sein. Ich glaube, ich kenne jemanden, auf den die Beschreibung passt wie der Schnabel ins Gesicht eines Vogels …“
    Sein Enkel konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Du kennst jemanden in Lagos? Und ich nahm an, du hättest die Umgebung dieses Dorfes nie verlassen!“
    „Das stimmt. Aber dieser Mann reiste viel umher, und er kam auch zu uns. Ich bin ganz sicher, dass er der richtige ist.“
    Wenige Minuten später zeigte Eweji ihm in seiner Hütte ein Foto von einem Mann mit einem langen Gesicht und einer fast europäisch wirkenden Hakennase. Seine dunkle Haut war zusätzlich schwarz geschminkt, und er trug einen weißen Anzug, ein schwarzes Hemd und einen weißen Zylinder.
    „Er sieht aus wie ein Idiot“, bemerkte Enene offen.
    „Oh, das ist er“, bekräftigte der Alte. „Er war drei Tage lang hier. Jeden Abend betrank er sich so sehr, dass er in die Latrine fiel – drei Mal, immer an derselben Stelle. Auf der Rückseite steht seine Adresse. Er hat sie zurückgelassen, für den Fall, dass wir seine Dienste brauchen sollten. Du musst dir vorstellen: Als er das sagte, saß er fast nackt hier an dieser Stelle. Die Frauen wuschen gerade seinen europäischen Anzug am Fluss. Er trug damals schon Weiß …“

6
    „Ich verstehe noch nicht ganz, was Sie von mir wollen, aber Ihnen sei versichert, dass Ihre Angelegenheit bei Dr. Herman P. Smith in den besten Händen liegt.“
    Der Kerl nannte sich tatsächlich so. Dabei war er ganz bestimmt kein Doktor. Er trug einen weißen Anzug, wie er ihn auf dem Foto angehabt hatte, und Enene musste sich zwangsläufig fragen, ob es derselbe war, mit dem er dreimal in die Latrine gefallen war. Er ertappte sich dabei, wie er zu schnuppern begann, wenn der selbsternannte Doktor sich ihm näherte. Und das tat der

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