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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Bursche gerne. Wenn er mit ihm sprach, kam er bis auf wenige Zentimeter heran. Es fehlte nicht viel, und die Haare, die dem angeblichen Schamanen mit dem falschen englischen Namen aus der Nase wuchsen, hätten das Kinn seines Gegenübers gekitzelt.
    „Ein Ifa hat mir nahegelegt, mit Ihnen zu sprechen“, erklärte Enene sachlich. „Es geht, kurz gesagt, um das Auftauchen von Schattenwesen. Keine Götter, keine Ahnengeister – etwas anderes. Sind Ihnen vielleicht … Gerüchte darüber zu Ohren gekommen? Könnten solche Wesen auch in Lagos ihr Unwesen treiben?“
    „Ich kenne diese Stadt wie meine Westentasche“, behauptete Smith. Mehr schien ihm zu dem Thema aber nicht einzufallen.
    Enene spürte Enttäuschung in sich aufsteigen. Andererseits glaubte er nicht, dass das Orakel sich getäuscht haben sollte. Er hatte vollstes Vertrauen in die Fähigkeiten seines Großvaters als Babalawo . Also legte er alle Karten auf den Tisch – vielleicht ergab sich doch noch etwas. „Im Orakel war die Rede davon, ich würde die Antwort auf meine Fragen nur als Kopie finden, nicht als Original. Ja, ich weiß, wie wirr das klingt. Ich habe selbst keine Ahnung, wie das zu interpretieren ist. Vielleicht können Sie mir helfen.“
    Wie konnte er nur so naiv sein anzunehmen, dass dieser Narr hinter ein Rätsel kommen würde, welches er selbst nicht zu lösen vermochte? Nicht Dr. Herman P. Smith hatte die Antwort parat, sondern … seine Wohnungseinrichtung.
    In diesem Moment klackte es nämlich laut in einer Ecke des Raumes, in dem Smith ihn empfangen hatte. Dann folgte ein elektronisches Piepsen. Smith drehte sich ohne ein Wort der Entschuldigung von seinem Besucher weg. Ein Blick an ihm vorbei enthüllte Enene eine Fernsehecke mit zwei Videogeräten. Aus beiden VCRs entnahm Smith Kassetten.
    „Es geht nichts über eine Kopie“, kommentierte der Mann im weißen Anzug. „Man weiß nie, wann man wieder einmal Lust auf den Film bekommt.“
    „Welche Filme kopieren Sie denn?“, wollte Enene wissen.
    „Vor allem Horrorstreifen. Berufliche Neugier gewissermaßen. Natürlich sind die meisten davon unrealistisch und schlecht recherchiert.“
    Während Smith das sagte, griffen in Enenes Kopf ein paar Rädchen ineinander. Videos. Horrorfilme. Kopien. Die Antwort, die du suchst, wirst du nicht im Original finden. Sei zufrieden, wenn es eine blasse Kopie davon ist. Die Worte seines Großvaters.
    Das ist es , dachte er.
    „Interessieren Sie sich für Horrorfilme?“, fragte Smith. „Ich kann Ihnen zeigen, wo Sie die größte Auswahl in ganz Afrika finden – ach, was sage ich? Die größte auf der ganzen Welt! Ich mache mich jetzt sowieso auf den Weg dorthin, ein paar Kassetten zurückgeben. Wenn Sie wollen, können Sie mich begleiten.“
    Enene wollte.

7
    Lagos war auf den ersten Blick eine Großstadt wie viele andere. Vereinzelt herausragende Wolkenkratzer, darunter ein dichter Flickenteppich aus ein- oder zweistöckigen Häusern, die meisten davon weiß gestrichen. Grünflächen gab es praktisch nicht, und auch die Umgebung der Stadt war ohne Reize. Der Verkehr schob sich wie ein Knäuel kriechenden Gewürms durch die Straßen, in denen die Armut so allgegenwärtig war wie das Verbrechen. Größere Geschäfte hielten sich daher schwerbewaffnete Security, Ausländer und reiche Nigerianer fuhren nicht selten mit Eskorte. Während man im Stau steckte, liefen Kinder und Jugendliche neben dem Auto her und versuchten Waren wie Süßigkeiten, Kleidung oder Armbanduhren an den Mann zu bringen. Man hatte den Eindruck, jeder Einwohner von Lagos handle mit irgendetwas, vom fünfjährigen Knirps bis zum Tattergreis.
    In die Slums wagte sich niemand, der dort nicht wohnte, waren doch schon die angenehmeren Stadtteile Schauplätze von Drogenhandel und Überfällen. All diese Dinge waren nicht auf die großen Städte beschränkt. Auf dem Land kamen noch die ständigen Konflikte der vielen unterschiedlichen Völkergruppen hinzu, die die Briten einst in dem Land Nigeria vereinigt hatten. Religiöse, ethnische und soziale Spannungen führten bis zum heutigen Tag zu blutigen Auseinandersetzungen.
    Wenn Enene in Deutschland über seine Nationalität sprach, konnten sich wenige etwas darunter vorstellen. Die meisten steckten es vermutlich in eine romantische Schublade mit den Urlaubsländern Ostafrikas, wie Kenia oder Tansania, in denen man Strandurlaub oder Safaris machen konnte. Wer wusste, dass Nigeria zu den fünf größten Erdölländern gehörte,

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