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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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verrieten, worauf sich sein Interesse bezog. Ihr fiel auf, dass ihre dunkle Haut durch den feinen weißen Stoff schimmerte, und sie kam sich vor, als stünde sie nackt vor ihm. Zum ersten Mal begriff sie, dass sie jung und hübsch sein musste. Früh gestorben, eine blühende junge Frau. Die Feststellung löste keine Erinnerung in ihr aus.
    Sie zögerte, den Mann anzusprechen, auch, weil ihr auf einmal alle Fragen dumm erschienen. „Wo sind wir hier?“ – „Was bedeutet das?“ Ausgesprochen lächerliche Fragen für Seelen, die sich in der Hölle begegneten. Was erwartete sie als Antwort? Eine theologische Erklärung? Eine Moralpredigt über die Vergehen, die sie sich vermutlich in der anderen Welt geleistet hatte? Er sah selbst so verloren aus wie sie, und drüben im Diesseits hätte sie jemanden wie ihn niemals auf der Straße angesprochen. Schon gar nicht in halbnacktem Zustand.
    Er öffnete die lila Lippen, wie um etwas zu sagen, doch dazu kam es nicht mehr.
    Auf dem kahlen Asphalt des Platzes gab es eine huschende Bewegung. Ihr Kopf ruckte herum, und sie sah ein … Wesen über die graue Oberfläche gleiten, eine Art Insekt, eine überdimensionierte Schabe vielleicht. Es hatte die Größe einer Männerhand und kam in ihre Richtung. Das Ding krabbelte blitzschnell im Zickzack auf sie zu.
    Sie wich zwei Schritte zurück, und das Insekt blieb für einen Augenblick stehen, schien sich neu zu orientieren. Es war jetzt noch zwei, drei Meter von ihnen entfernt. Während es verharrte, studierte die Frau es. Und sah etwas Unfassbares.
    Das Wesen hatte die Form eines Schriftzeichens, eines chinesischen Schriftzeichens, wenn sie sich nicht irrte. Dieser Buchstabe war nicht etwa auf den Rückenpanzer des Insekts gemalt, sondern das Tier war selbst dieses Zeichen. Einige der äußeren Striche dienten ihm als Beine (es hatte fünf davon), während die kantigen inneren Linien seinen Körper bildeten.
    „Ein lebendes Schriftzeichen“, presste sie hervor.
    „Treten Sie drauf“, zischte der Mann. „Machen Sie es weg!“
    Hätte sie Schuhe getragen, sie hätte es vielleicht sogar getan. Doch barfuß, wie sie war, konnte sie sich nicht dazu überwinden. Sie schielte nach dem Notizblock, den der Mann in der Hand hielt. Der hätte eine gute Waffe abgegeben ( patsch !). Doch als er kapierte, was sie vorhatte, legte er ihn sich auf die Brust und umschlang ihn schützend mit den Armen. „Oh nein“, sagte er kopfschüttelnd. „Das werden Sie nicht tun!“
    Das lebendige Schriftzeichen huschte nun auf den Mann zu, und dieser ergriff hüpfend die Flucht. Das bizarre Insekt verfolgte ihn ein Stück weit, bis er es schließlich – eher aus Versehen als absichtlich – unter seinem nackten Fuß zerquetschte. Aus der Entfernung erkannte sie, wie das Ding zuckte und dann still liegenblieb. Ihre Neugier siegte über ihren Ekel, und sie ging hinüber, um sich das Wesen zu betrachten. Es hatte nun etwas von einer Kalligraphie an sich, auf die in der Mitte eine Menge Wasser getropft war.
    „Gibt es viele von diesen Dingern hier?“, fragte sie den Mann, der mit verzerrtem Gesicht versuchte, sich die schwarzen Reste des Kadavers vom Fuß zu streifen.
    „Viele?“, gab dieser mürrisch zurück. „Mehr als genug für meinen Geschmack. Möchten Sie Sex haben? Sex funktioniert noch in dieser Welt – genauso gut wie drüben, oder besser. Aber das wissen Sie wahrscheinlich längst.“
    Nichts wusste sie, und sie hätte viele Fragen gehabt über das, was in dieser Welt funktionierte und was nicht, aber das Wort mit den drei Buchstaben hatte ihr die Lust genommen, das Gespräch weiterzuführen. Kommentarlos wandte sie sich ab und schlug den Weg zu dem Gebäude ein. Dieser große freie Platz mit seinen öden Steinklötzen deprimierte sie, und natürlich war es absurd anzunehmen, es würde in der Hölle einen Ort geben, der einen nicht deprimierte, aber sie wollte wissen, wie es im Inneren des Gebäudes aussah. Einen Palast wollte sie darin nicht sehen, auch wenn der Standort vor dem weiten Platz einem den Gedanken förmlich aufzwang. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Fürst oder König sich in diesen öden Mauern wohlfühlte.
    Andererseits: Wenn es sich um den Fürsten der Hölle handelte …
    Sie hielt auf die Tür zu, die am nächsten lag. Ein Mann in mittlerem Alter kam gerade heraus, mit hängenden Schultern, enttäuscht und niedergeschlagen, wie es schien. Als sie ihn passierte, funkelte er sie böse an und keifte: „Sie, Sie

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