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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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wird man auch nicht hineinlassen, darauf können Sie Gift nehmen!“
    Schulterzuckend ging sie weiter, drehte jedoch noch einige Male den Kopf nach hinten, um sicher zu sein, dass er sich nicht auf sie stürzte. Missmut und Gereiztheit schien hier der Normalzustand zu sein, im Grunde nachvollziehbar an diesem Ort. Hinter der Türöffnung folgte ein kurzer, schlichter Korridor, an dessen Ende zwei Menschen auf sie warteten, ein Mann und eine Frau. Es waren die ersten hier, die nicht das weiße Tuch am Leib trugen. Der Mann hatte eine Art dunkelblauer Uniform an, mit polierten goldenen Knöpfen. Damit erinnerte er sie an einen Offizier des deutschen Heeres während der Regierungszeit der beiden Wilhelms. Die Frau trug eine mittelalterlich wirkende Lederrüstung mit kupfernen Brustplatten. In dieser Kombination haftete denen beiden ein Hauch von Karneval an, doch ihre Mienen drückten tiefsten Ernst aus. Entschlossenheit. Die Bereitschaft, von ihren Waffen, einem Bajonett bzw. einem schmalen Schwert, Gebrauch zu machen.
    „Halt!“, rief der Mann. Die beiden versperrten ein Portal, klobig und seltsam schlicht.
    „Was ist hinter der Tür?“, erkundigte sich die Gestorbene.
    „Macht“, erwiderte der Wächter.
    „Wer hat die Macht?“ Solange der Kerl sich gesprächig zeigte (wenn auch nur in mürrischen Ein-Wort-Sätzen), musste sie am Ball bleiben. Sie war in diese Welt hineingeboren und hatte nun ihre Gesetze und Gegebenheiten zu durchschauen. Vielleicht öffnete ihr das einen Weg, sich auch selbst wieder kennenzulernen. Und diesem allem einen Sinn zu geben.
    „Niemand hat die Macht“, erwiderte der Wächter. „Und jeder.“
    Schön. Das war genau die Art von Antwort, die sie befürchtet – und erwartet – hatte. Diese Auskunft taugte nicht einmal zu einem Orakel, so nichtssagend war sie. Trotzdem ließ sie das Gefühl nicht los, dass die Situation auf der anderen Seite der Tür anders aussah. Irgendetwas von Bedeutung wurde im Inneren des Bauwerks verborgen. Also musste sie hineinkommen. Nur wie?
    „Was muss ich tun, um durch diese Tür gehen zu dürfen?“, fragte sie geradeheraus. Sie fand, je unklarer die Sachlage, desto weiter kam man mit klaren, direkten Fragen.
    „Das Herz!“
    Sie blickte sich um. Das passte nicht als Antwort auf ihre Frage, und es waren auch nicht die beiden Wächter, die die Worte ausgesprochen hatten. Hinter ihr, draußen vor dem Gebäude, hatte es jemand gebrüllt. Mehrere Stimmen mischten sich hinein, und es entstand ein kleiner Tumult, ein wildes Geschrei. „Ja, er ist es!“ – „Geht in Deckung!“ – „Er greift das Scriptorium an!“
    Die Wachleute wurden sichtlich unruhig. Sie warfen sich hektische Blicke zu, dann rannte die Amazone plötzlich los, und der Soldat verzog das Gesicht und folgte ihr hinaus ins Freie. „Ich schieße ihn ab“, brüllte er. „Ich hole ihn vom Himmel.“ Die Gestorbene blieb alleine bei der Tür zurück. Sie unterdrückte den Wunsch, den beiden nachzurennen und mit eigenen Augen zu sehen, was dort draußen vor sich ging. Unverzüglich lief sie zur Tür, und als weder Klinke noch Schloss zu sehen war, lehnte sie sich gegen das schwere Holz.
    Die Tür öffnete sich. Der Gedanke, dass das Gebäude, das sie sich zu betreten anschickte, einem Angriff von außen ausgesetzt war, von wem und in welcher Form auch immer, hätte die Frau beunruhigen müssen, aber sie war in einer Verfassung, in der sie so leicht nichts erschütterte. Tot und in einem bizarren Jenseits angekommen – das war schwer zu toppen. In gewisser Weise fühlte sie sich sogar unverwundbar, unsterblich, wie in einem Traum, den man als Traum erkannte, in dem man tun und lassen konnte, wonach einem der Sinn stand. Tot zu sein war dann am schlimmsten, wenn man an das Leben zurückdachte, das man verloren hatte. Doch war man erst einmal tot, konnte man bestimmt nicht noch einmal sterben. Und da sie sich nicht an ihr Leben erinnern konnte, hielt sich der Schmerz über dessen Verlust in Grenzen. Vielleicht war es scheußlich gewesen, dieses Leben, und es war ein Segen, es losgeworden zu sein. Ja, der Gedanke gefiel ihr; sie würde ihn hegen und pflegen, damit er in ihr groß und stark wurde.
    Diese Welt ließ ihr keine Zeit zum Nachgrübeln. Sie huschte durch riesige Hallen voller Menschen. Das Gebäude war wie ein Ameisenbau, überall wimmelte und wuselte es von Menschen. Viele von ihnen trugen Bücher, Schriftrollen, Notizblöcke und anderes Schreibmaterial in den Händen,

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