Falkengrund Nr. 34
hatte, wurde nun deutlich.
Es handelte sich nicht um einen Menschen, auch nicht um eine seit fünf Jahren verwesende Leiche.
Was wie eine Frau aussah, war in Wirklichkeit ein komplexes Geflecht aus Meerespflanzen. Sie hatten sich so perfekt zu einer weiblichen Gestalt gefügt – mit Gesichtszügen, Haaren und einzeln herausgearbeiteten Fingern und Zehen –, dass ein Zufall, eine Laune der Natur nicht in Frage kam. Falls dieser Körper nicht auf übersinnliche Weise aus dem Geist der Ertrunkenen entstanden war, musste ihn jemand geflochten haben.
Sir Darren tauchte hinab. Er war kein Mensch, der sich gerne die Finger schmutzig machte, aber nun, da er schon in dieser Dreckbrühe schwamm, legte er jedes Ekelgefühl und jede Angst ab. Schließlich hatte er Carnacki gegenüber einen Ruf zu verteidigen, und neue Erkenntnisse über diesen merkwürdigen Fall rechtfertigten alle Mittel.
Er bekam die Figur zu fassen. Mit hartnäckigem Ziehen und Drehen ließ sie sich aus den Schlingpflanzen befreien, die sie hielten. Zusammen mit der Puppe tauchte er auf. Da das Grundgestell ihres Körpers aus Holz bestand, gab sie ihm sogar ein wenig Auftrieb, und er schwamm mit ihr zurück ans Ufer. Wie ein Moormonster erhob er sich aus dem dickflüssigen Schlick, der sich rings um den Tümpel abgelagert hatte. Ehe er sich selbst reinigte, befreite er die weibliche Figur von dem Schlamm. Pflanzen verschiedener Konsistenz waren miteinander verknotet und verflochten.
War es denkbar, dass die Dorfbewohner – oder einer von ihnen – diese Figur gebaut und im Teich versenkt hatten? Vielleicht, um zu verbergen, dass die Frau damals nicht gestorben war? Hatte womöglich die Frau selbst auf diese Weise versucht, ihr Überleben zu vertuschen, ihren Tod vorzutäuschen?
Diese Erklärungsversuche kamen ihm reichlich bizarr vor. Allerdings waren es alle anderen Möglichkeiten nicht minder.
Die Gegend um Ushtington Pool würde er nicht verlassen, ohne in Ruhe Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen zu haben. Er hatte das Gefühl, dass ihm dieser Ort noch etwas zu sagen hatte.
Wie eine Vogelscheuche stellte er sich mit gespreizten Beinen und nach den Seiten ausgestreckten Armen an den Tümpel und schloss die Augen. Die Puppe lag zu seinen Füßen. Er spürte, wie der Schlamm von ihm abtropfte. Seine Schuhe waren mit dem Boot untergegangen. Geduldig lauschte er nach Geräuschen, die ihm bei seiner Meditation helfen konnten, doch da war nichts. Keine Tiere, kein Wind. Wenn man die Augen schloss, blieb vom Ushtington Pool nur Nässe und Gestank übrig.
„Ich rufe dich, Gilbert“, murmelte er. „Sprich mit mir, wenn du kannst.“ Der korrupte Politiker aus dem 19. Jahrhundert war einer seiner wichtigsten Geistführer. Sir Darren mochte ihn nicht, aber Gilbert war stark. So wie sein Leben von Beziehungen zu den richtigen Leuten geprägt gewesen war, so unterhielt er auch im Jenseits ein Netz aus Kontakten.
Diesmal meldete sich der Geistführer erstaunlich schnell. Es schien, als hätte er hinter dem Vorhang, der die beiden Welten trennte, nur darauf gewartet, dass Sir Darren das Wort an ihn richtete. War es dieser Ort, der den Vorhang so dünn werden ließ?
„Du solltest sie wegwerfen“, sagte Gilberts ölige, unsympathische Stimme.
Der Mann, der ihn gerufen hatte, fuhr zusammen. „Die Puppe?“
„Er kommt, um sie zu holen. Du solltest ihn nicht unterschätzen, Darren!“
„Wer kommt?“
„Sie gehört ihm. Er will …“
So plötzlich, wie das Gespräch begonnen hatte, endete es. Mit einem Mal war der Kontakt unterbrochen. Für zehn Sekunden vernahm Sir Darren ein Gewirr von Stimmen, als würden Hunderte von Menschen gleichzeitig sprechen. Dann herrschte Stille. „Gilbert? Wer kommt?“
In solchen Situationen gelang es meist, den Kontakt noch einmal herzustellen, wenn man hartnäckig blieb und weiterhin fragte, anstatt den Kanal von sich aus zu schließen. Doch ein Instinkt ließ ihn stattdessen jäh die Augen öffnen.
Der Instinkt hatte sich nicht geirrt. Sir Darren wurde Zeuge einer schaurigen Szene.
Er befand sich sechs oder sieben Schritte vom Ufer des Schlammpfuhls entfernt. Aus dem Schlick kroch eine Gestalt – nein, der Schlick war es selbst, der kroch. Immer wieder sammelte sich der Morast zu einer entfernt menschenähnlichen Gestalt, floss in einer Weise über das Ufer, dass es aussah, als schleppe sich jemand aus dem Wasser an Land. Doch wie bei heranrollenden Meereswellen sank diese Gestalt immer wieder in sich
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