Falkengrund Nr. 34
Sekunde wütender wurde, und vielleicht bestand die einzige Möglichkeit, dem Zorn des Schattens zu entgehen und sein eigenes Leben zu retten, darin, den Strom schnell abzuschalten, ehe die Wut das Geschöpf noch stärker machte. Und dennoch – wer einen aufgebrachten Tiger in einem knarrenden Bambuskäfig gefangen hatte, sägte nicht freiwillig die Stäbe durch, um ihn zu besänftigen.
Carnacki taumelte auf dem Boot umher, kaum mehr Herr seiner Sinne. Obwohl der Kahn nur wenig schwankte, spürte er die Unsicherheit des Mediums Wasser unter sich. Das Atmen der anderen war unnatürlich deutlich wahrzunehmen, so als stünden sie direkt an seiner Seite. Von dem Geist Abernathys war noch immer nichts zu erkennen. Carnacki fiel eine Zeile aus einem alten Manuskript ein, von dem er eine Abschrift besaß: „Wenn die Hölle ihre Pforten öffnet, verkriechen sich die Geister, denn sie fürchten sie noch mehr, als die Lebenden sie fürchten.“
Mit dem Fuß stieß er gegen die Lampe und warf sie um. Das alleine hätte das Petroleum noch nicht auslaufen lassen, doch als nächstes trat er darauf und zerbrach den Behälter, in dem sich der Brennstoff befand. Dies alles geschah ohne Absicht, und er bekam nichts davon mit. Zunächst geschah nichts weiter. Das Petroleum sickerte in die feuchten Planken des Kahns. Erst nach einer Minute griffen die Flammen langsam auf das Öl über, und eine dünne blau-gelbe Feuerschicht überzog die Heckseite des Bootes wie ein wunderschöner orientalischer Teppich.
Die Aufmerksamkeit des Geisterfinders gehörte dem Schatten, der noch immer mit ruckenden Bewegungen im Licht umherflatterte. Ein unmögliches Bild stand vor seinen Augen – eine Motte, die in einer Leuchtröhre gefangen war . Das Licht vermochte den Schatten nicht zu durchdringen, die Schwärze nicht aufzuhellen.
Ein Hitzeschwall drang auf Carnacki zu, und als er endlich reagierte, züngelten die Flammen bereits an seinen Stiefeln empor. Hastig versuchte er das Feuer auszutreten, was natürlich nicht gelang. Seine Blicke jagten im Boot hin und her, doch hier gab es nur elektrische Apparaturen, keine Decke, mit der man das Feuer hätte ersticken können. Ihm blieben nur wenige Augenblicke, um sich zu retten. Die Alternativen waren einfach: Er konnte nur den Sprung ins Wasser wählen, entweder nach außen in die Dunkelheit oder nach innen in das übernatürliche Licht hinein.
Schon schwankte er zur Außenseite, denn es gibt kein Lebewesen auf dieser Erde, dessen Instinkt eine Flucht ins Zentrum der Gefahr vorgibt. Dann allerdings erwachte in Carnacki etwas Stärkeres: Ein zweiter, erworbener Instinkt, genährt durch seine jahrelange Erfahrung in lebensbedrohlichen Situationen. Dutzende Male hatte ihn das Elektrische Pentakel vor dem Tode gerettet, und in all diesen Situationen war er im Inneren des Pentakels sicher oder zumindest sicherer gewesen als außerhalb davon.
Dieser zweite Instinkt obsiegte in diesem Fall. Carnacki machte einfach einen Schritt über Bord, mit dem brennenden Schuh zuerst. Er klatschte in das blau leuchtende Wasser, tauchte bis über den Kopf unter, und auch ohne sein Zutun riss ihn die Korkweste wieder zurück an die Oberfläche. Dieser Zustand allerdings währte nur einen Augenblick. Etwas zerrte an seinen Füßen, nichts Körperliches, sondern eine Energie, wie eine verstärkte Gravitation. Noch während er sich durch heftige Ruderbewegungen verzweifelt an der Oberfläche zu halten versuchte, begriff er, was es war. Das Wasser hatte durch die Veränderung, die mit ihm vorging, einen Teil seines Auftriebs verloren, zumindest zeitweise. Wenn sich die milchigen Schlieren bildeten, die Flüssigkeit also gelierte, wurde dem übrigen Wasser etwas entzogen, und es wurde – mit den Worten eines Laien ausgedrückt – dünner, weicher, nachgiebiger.
Der Kork konnte ihn nicht mehr halten, und auch seine Schwimmbewegungen reichten nicht aus, um den Effekt auszugleichen. Als er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens bemerkte, füllte er seine Lunge noch einmal mit Luft und ließ sich hinabgleiten. In diesen Momenten dachte er nicht an seinen Tod. Er dachte an das Phänomen, an den Schatten. Er fühlte ihn näherkommen, und das hatte nichts mit Einbildung zu tun, denn der Schatten war in der Tat körperlich zu spüren.
Von dem Wesen gingen Wellen aus, Kräfte, die direkt auf Carnackis Organismus wirkten. Sein Herzschlag beschleunigte sich auf unnatürliche Weise, als übernehme eine fremde Macht von außen die
Weitere Kostenlose Bücher