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Falkengrund Nr. 34

Falkengrund Nr. 34

Titel: Falkengrund Nr. 34 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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einmal durch den Raum. In der Mitte war es am kältesten.
    Er blickte nach oben an die Decke. Wenn hier das Gebläse einer Klimaanlage zu sehen gewesen wäre … aber da war nichts. „Es muss mit den hohen Räumen zu tun haben“, murmelte er. „Das Feng Shui hier ist unterste Schublade.“
    „Clemens!“ Constanze stieß seinen Namen gemeinsam mit einem Kreischen aus. Er zuckte zusammen und sprang zur Seite.
    In der Mitte des Raumes stimmte etwas mit der Luft nicht. Sie schimmerte wie eine halbtransparente Folie. Ein bisschen konnte man es mit einer Luftspiegelung vergleichen, die sich an heißen Tagen über dem Horizont bildete.
    „Was ist das?“, krächzte Clemens und blieb in nächster Nähe des Phänomens stehen.
    „Komm hier rüber!“, rief Constanze. Sie war zurückgewichen und drückte ihren Rücken gegen die geschlossene Tür.
    In der Zimmermitte zeichnete sich eine Gestalt ab, zunächst nur die Konturen, dann gewann sie an Substanz, wurde dreidimensional, greifbar, farbig, kodachrome.
    Constanze begann zu schreien. Sie schrie wie eine der Schauspielerinnen in den alten Schwarzweiß-Thrillern, so laut sie konnte und unermüdlich. Sie kreischte in kurzen Stakkato-Stößen, holte zwischendurch pfeifend Luft und schrie weiter. Da sie ihren Blick nicht von dem Geschehen abwenden konnte, suchte ihre Hand blind nach der Klinke, griff ein Dutzend Mal vorbei und fand sie nicht.
    Clemens hatte den Mund ebenfalls weit offen, aber es kam kein Laut heraus. Direkt vor ihm, in Reichweite seiner Hände, formte sich ein menschlicher Körper aus dem Nichts! Die Haut schimmerte dunkel, der Leib war der einer schlanken jungen Frau. Sie trug keine Kleidung. Dafür steckte in ihrem Mund ein merkwürdiges Eisenstück, das die Form des Buchstabens H hatte. Es zerrte ihre Oberlippe nach oben und die Unterlippe nach unten, sodass Zähne und Zahnfleisch preisgegeben wurden. Es sah sehr unangenehm aus. Ihre Hände waren mit einer schweren Handfessel hinter ihrem Nacken fixiert, und ihr Schädel wurde von einem umgekehrten U aus dickem Stahl eingeklemmt. Sie flatterte mit den Ellbogen wie ein Vogel, dem man die Flügel zu Stummeln gestutzt hatte.
    Das Gesicht der Frau war vor Schmerzen verzerrt, und Tränen liefen in breiten Bahnen aus ihren Augen. Die Tränen glänzten metallisch wie Quecksilber.
    „Nnng!“, machte sie. „Nnnnnng!“ Ihre Zunge versuchte sich zwischen ihren Zähnen und dem Querbalken des H‘s durchzudrängen, und als sie es geschafft hatte, hing sie offenbar fest und konnte nicht mehr zurück. Auch ihr Speichel schillerte wie flüssiges Silber, und wenn sie den Kopf schüttelte, spritzte er nach allen Seiten.
    Und sie sah Clemens und Constanze anklagend an. Warum helft ihr mir nicht? Warum? Seht ihr nicht, wie besch… es mir geht? Warum steht ihr nur da und glotzt?
    „Wir – müssen – raus!“, brüllte Constanze, immer noch unfähig, die Tür zu öffnen.
    Clemens streckte der Erscheinung seine Hände entgegen und zog sie wieder zurück, ehe er das Ding aus einer anderen Welt berühren konnte. Speicheltropfen von der Gequälten trafen seine Handrücken. Sie fühlten sich an wie Eiswasser. „Aber ich muss … aber wir sollten …“
    Dann hatte die Welt ein Einsehen, kurz bevor Clemens sie mit halbverdauten Müssens und Solltens vergiften konnte. Der Spuk wurde wieder transparent, und auf dem Gesicht der Erscheinung legte sich eine obere Schicht Angst über die untere Schicht Angst, zweifaches Verzweifeln – Panik im Doppelpack. Lieber winde ich mich nackt vor zwei wildfremden Menschen , lautete die Botschaft ihrer Blicke, als wieder dorthin zurückzukehren, wo ich herkomme. Ihr seht also, was für ein mieser Ort das ist, an den ich jetzt gehen muss. Der mieseste Ort im ganzen Universum.
    Kurz bevor sie verschwand, fiel Clemens auf, wie unglaublich hübsch sie sein musste, wenn man den Schrecken und den Metallknebel von ihr subtrahierte. Sie schickte sich an, sich auf eine schmutzige, pornographische Weise in seine Erinnerung zu installieren, eine unangenehme Kategorie sexueller Fantasien in seinem armen kleinen Kopf zu etablieren.
    Es dauerte nur drei, vier Atemzüge, dann war die Gestalt verschwunden. Und obwohl Clemens noch gefühlte fünf Minuten auf die Stelle starrte, an der die Welt verrückt geworden war, blieb das Tor zur anderen Wirklichkeit verriegelt und verschlossen.
    Inzwischen hatte Constanze die Aufgabe bewältigt, die Türklinke zu drücken. Das Zimmer hatte ein rechteckiges Loch

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