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Falkengrund Nr. 34

Falkengrund Nr. 34

Titel: Falkengrund Nr. 34 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Weidenbaum, dem sie etwas Rinde und einige Blätter stahl. Die Weide verlieh Mut in schwierigen Zeiten, auch in Zeiten der Trauer. Für den Freundschaftszauber, die sie plante, war die Weide ein riskantes Ingrediens, denn Hexen verwendeten sie für Trancereisen in die Welt der Naturgeister oder ins Reich der Toten. Doch die Trauer um den verschwundenen Sir Darren, die verstorbene Sanjay und ihr verlorenes Augenlicht waren so groß, dass sie auf die Weide unter keinen Umständen verzichten wollte.
    Eine Stunde lang kniete sie an einer geschützten Stelle, mischte Eisenkraut und Weide in einer langwierigen Prozedur und besprach die beiden Zutaten unablässig mit magischen Worten, bis ihre Kehle ausgetrocknet und ihre Finger wundgerieben waren.
    Schwankend erhob sie sich, lehnte schwindelig an einem Baum, bis sie genügend Kraft für den Rückweg getankt hatte. Auf dem Weg nach Falkengrund überkamen sie Zweifel. Aus einer nüchternen Perspektive heraus konnte sie kaum damit rechnen, dass ihr Zauber aus ein paar zerriebenen Kräutern und einigen daruntergemischten Zaubersprüchen große Wirkung zeitigen würde.
    Aber in diesem Punkt irrte sie.
    Dieser behelfsmäßig improvisierte Zauber würde eine Menge bewirken, weit mehr sogar, als ihr lieb war.
    Er würde ihr aller Schicksal beeinflussen. Vor allem aber würde er eine Macht entwickeln, die einen Menschen über die Schwelle des Todes stieß.

6
    Sir Darrens Hirn arbeitete. Seine Züge versteinerten, als er den anderen den Rücken zuwandte. Bis jetzt hatte er angenommen, auf Falkengrund wären die Dinge während seiner Abwesenheit ihren gewohnten Gang gegangen – weit gefehlt! Hier hatte sich Dramatisches abgespielt.
    In einem solchen Moment Entspannung in einem Glas Wein zu suchen, war eigentlich nicht seine Art. Er war Genusstrinker, kein Stresstrinker. Aber nun befand er sich schon auf dem Weg in den Keller, und er brauchte einige Minuten des Alleinseins, um sich in diesem Strudel schockierender Informationen wiederzufinden.
    Der Zugang zum Untergeschoss lag unter einer der beiden wuchtigen Treppen verborgen, die nach oben führten. Die Tür zur Kellertreppe konnte als Geheimtür durchgehen, und einige Studenten lebten wochenlang hier, ehe sie sie entdeckten. Das schwache, beinahe orangefarbene Licht schien aus der Frühzeit der Elektrifizierung zu stammen, und die Stufen wurden davon nur unzureichend ausgeleuchtet. Früher hatte der Dozent ihren Abstand auswendig gekannt, doch nun tastete er sich vorsichtig hinunter, Spinnweben ausweichend. Offenbar hatte Werner die Putzfrau aus Kostengründen entlassen müssen.
    Neben einer winzigen Abstellkammer gab es da unten nur zwei Räume: Sir Darrens Weinkeller und Dr. Konzelmanns Labor. Zeitweise hatte der Brite den Ort edler Tropfen abgeschlossen, doch in der letzten Zeit vor seiner Abreise hatte er darauf verzichtet. Seine Autorität war Sicherheit genug gewesen.
    Als er vor der dicken Holztür des Kellers stand, hielt er inne. Irgendetwas fühlte sich anders an. Ein Gefühl, als stünde jemand hinter einem, überfiel ihn. Natürlich blickte er sich um, und natürlich sah er niemanden. Man hatte seinen Wunsch, alleine zu gehen, respektiert.
    Und doch war da jemand. Unsichtbar, körperlos vielleicht. Sir Darren hatte gelernt, Besucher aus einer anderen Welt physisch zu spüren, und diese Fähigkeit trog ihn nie.
    Er war nicht allein in dem zwielichtigen Gang vor dem Weinkeller. Die Luft war unnatürlich kalt, selbst für diesen unterirdischen Ort, und sie kühlte sich binnen Sekunden spürbar weiter ab – ein nahezu hundertprozentiges Zeichen für die Anwesenheit einer menschlichen Seele. Viele Leute brachten diese Kälte mit der angeblichen Kälte des Jenseits in Verbindung. Sie glaubten, der eisige Wind der anderen Welt wehe durch die Öffnung herüber, durch die die Geister kamen. Sir Darren war nicht überzeugt davon, dass es im Jenseits eiskalt war. Wieso auch? Es gab keinen Grund zur Annahme, dass das Phänomen Temperatur im Totenreich überhaupt existierte. Nach seiner Theorie wurden Geistererscheinungen nur deshalb von sinkenden Temperaturen begleitet, weil die Seelen zur Manifestation in unserer Welt eine Menge Energie brauchten, und diese entnahmen sie als Wärme der Luft, die sich dadurch abkühlte.
    „Wer ist da?“, fragte er ruhig. Er hatte keine Angst. Erscheinungen erfüllten ihn mit Spannung, mit einer nervösen Erwartung, wie man sie angesichts von etwas Großem, Wichtigem empfindet. Wer wollte ihm

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