Falkengrund Nr. 34
finde.“
Werner sprang auf. „Ich begleite dich.“
„Mach dir keine Umstände. Nicht vergessen: Ich bin kein Fremder hier. Ich bin ebenso hier zu Hause wie ihr. Wieder hier zu Hause.“
Wer hätte ihm da widersprechen wollen? Sie ließen ihn alleine ziehen. Thomas Carnacki sah sie aufmunternd an.
„Tell me your story“, sagte Angelika in die Stille hinein und setzte sich zu dem Geisterjäger. Dieser lächelte und begann zu erzählen.
Keiner von ihnen ahnte, dass Sir Darren schon wenige Minuten später nicht mehr unter ihnen weilen würde. So plötzlich sie ihn zurückgewonnen hatten, so plötzlich würden sie ihn wieder verlieren.
5
„Autsch! Verflixt! Mann! Brennnessel – was für ein ekelhaftes … Teufelszeug.“
Margarete, die am Waldrand kauerte, schüttelte ihre rechte Hand, mit der sie mitten in ein Brennnesselbeet gegriffen hatte. Ihr Kleid war mit Erde beschmiert, ihre Finger schmutzig, und sogar ihr Gesicht hatte in der letzten Stunde Schlammspritzer und grüne Spuren von Moos und Gras abbekommen. Überall im Wald war es noch nass von den kräftigen Regenschauern, die in der Nacht die Region großflächig überzogen hatten. Dass sie unter diesen widrigen Umständen im Wald herumkroch, war eine Trotzreaktion gegen ihr Schicksal. Nein, nicht gegen ihr Schicksal, sondern dagegen, wie sie in der Wochen seit ihrer Erblindung damit umgegangen war. Heute Morgen war sie aufgewacht, und irgendetwas war anders gewesen. Auf einmal hatte sie die Nase gestrichen voll gehabt von ihrer eigenen Schockstarre. Das war nicht sie – das passte nicht zu ihr! Sie wollte wieder aktiv werden. Sie hatte sich in Hilflosigkeitswahn hineingesteigert, und nun kamen ihr heftige Zweifel. Ihr Augenlicht hatte sie verloren, ja, aber ihre anderen Sinne waren noch da, sie konnte ihre Arme und Beine bewegen, und vor allem: Sie lebte. Das unterschied sie von vielen anderen, auch von Sanjay.
Irgendwie schuldete sie es Sanjay, ihr Leben aktiv zu gestalten. Das zu tun, was sie immer noch tun konnte. Und das war sehr, sehr viel. Margarete war mit der Magie stets zurückhaltend und vorsichtig umgegangen, zu vorsichtig vielleicht. Sie wusste vieles und setzte es doch nicht ein. Jetzt war die Zeit zum Umdenken gekommen. Es galt, die Theorie in die Praxis umzusetzen, denn die Schule war schlimmeren Gefahren ausgesetzt als je zuvor. Wer bitte sollte die jungen Leute vor künftigen Katastrophen schützen, wenn nicht sie, Margarete Maus, Hexe und Dozentin für magisches Wissen? Seit Sir Darrens Verschwinden war sie die einzige, die dazu in der Lage war.
Heute wollte sie damit beginnen, im Wald Kräuter zu sammeln. Kräuter – oft belächelt und unterschätzt – bildeten die Grundlage der Hexenkunst. In ihnen verband sich Kraft mit Weisheit: die unbändige Kraft der Erde mit der feinen Weisheit in den Genen der winzigen Pflanzensamen. Kein Spruch, kein Ritual kam der Macht eines Krauts gleich, das man richtig einzusetzen wusste. Margarete hatte die Kräutervielfalt der Erde stets als eine riesige Bibliothek voller wertvoller Klassiker verstanden. Bücher konnte sie nun nicht mehr ohne weiteres lesen, aber in der Bibliothek der Natur ließ es sich nach wie vor gut stöbern. Mehr noch als die Fingerspitzen half die Nase dabei. Nach dem Regen rochen die Kräuter zwar alle ein wenig stumpf, und ihr Duft vermischte sich mit den stickigen Ausdünstungen der feuchten Erde, aber nach intensivem Schnuppern manifestierten sich die Pflanzen vor ihrem inneren Auge wie farbenfrohe Gespenster.
Am Waldrand war ihr Eisenkraut begegnet und hatte sie auf eine Idee gebracht. Die Pflanze war im Volk auch unter den schönen Namen Wunschkraut oder Katzenblutkraut bekannt. Sie duftete kaum, war mit ihren stabilen, leicht behaarten Stängeln und Blättern aber gut zu ertasten. Eisenkraut wurde von Kräuterhexen gerne für den Liebeszauber eingesetzt, weil man ihm die Kraft zuschrieb, Menschen aneinander zu binden.
Nicht um die Liebe kreisten Margaretes Gedanken, vielmehr fand sie, dass es an der Zeit war, Falkengrunds Bewohner enger zusammenzuschweißen, ihre Freundschaft zu festigen. So kitschig es auch klingen mochte: Die vielen Krisen und Gefahren würden sie nur gemeinsam durchstehen – oder gar nicht.
Um die Wirkung des Eisenkrauts zu potenzieren, wären Lorbeer oder Rosmarin nicht schlecht gewesen, denen ähnliche Eigenschaften eigen waren. Natürlich wuchsen beide Pflanzen in hiesigen Lagen nicht wild. Stattdessen fand Margarete einen riesigen
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