Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
heraus.
Verdattert ließ Sadik die leere Truhe los.
Ein Blatt wehte an Tobias vorbei. Er versuchte es zu fassen, doch es flog über den Gondelrand hinaus in die Nacht. Tobias stürzte sich zu Boden und seine Hand griff nach einer zweiten Seite, die gleichfalls wegwehen wollte.
›Wattendorfs Brief!‹, schoss es ihm durch den Kopf. Er wusste nicht, was diesen Gedanken in ihm hervorrief, denn er konnte ja nichts Genaues erkennen. Ob es Instinkt war, Ahnung oder aber doch ein unbewusstes Erkennen, dass diese krakelige Schrift nichts mit der seines Vaters gemein hatte – er wusste es auch später nicht zu ergründen, was ihn so sicher gemacht hatte. Seine Hand schloss sich um das Papier, als wollte sie sich nie wieder öffnen.
»Tobias! Die Bücher müssen über Bord!«, schrie Sadik über ihm in panischer Angst.
Tobias fuhr hoch. Sie hatten es über den See geschafft. Doch nun sprang sie die Mauer der Bäume an. Die Gewichtsverringerung hatten den Ballon keine dreißig Meter steigen lassen und nun ging es schon wieder rapide abwärts! Diesmal war es endgültig.
»Zu spät, Sadik!«, brüllte Tobias, als sie den Baumkronen entgegenflogen. »Halte dich gut fest! Es wird eine harte Landung geben! Wir werden mitten in die Bäume …«
Ihm blieb nicht mal die Zeit, den Satz zu beenden. Die Gondel rauschte durch eine Krone und bockte wie ein störrischer Esel, dass Tobias fast hinausgeschleudert worden wäre, weil er sich nur mit der linken Hand festhielt, denn die rechte hatte sich eisern um das Blatt Papier geschlossen.
Sadik fluchte.
Noch ein Baumwipfel schlug peitschend mit seinen Ästen nach ihnen und versuchte sie aus der Gondel zu werfen. In der dritten Baumkrone fand die Ballonfahrt ihr Ende. Die Gondel brach tief ein. Äste splitterten, doch andere packten mit ihren Gabelungen nach den Seilen, dem Korbring und dem Netz und gaben ihre Beute nicht mehr her. Eine letzte verzweifelte Kraftanstrengung des ermatteten Ballons. Ein Ruck ging durch die Gondel. Sie wurde halb auf die Seite gerissen. Doch die Kraft der Äste triumphierte und die Hülle sank wie ein schwarzes Trauertuch nieder, breitete sich wie ein Leichentuch über die Spitzen der nahe stehenden Bäume. Das restliche ausströmende Gas war wie ein Seufzer. Ein letzten Flattern und Reißen von Taft und Seide, als spitze Zweige ihre nachtschwarze Beute aufspießten. Dann herrschte Stille.
Der Falke war gelandet. Sein erster freier Flug war gleichzeitig auch sein letzter gewesen. Doch er hatte Tobias und Sadik in die Freiheit getragen!
Verschollenes Tal im Wüstensand
Tobias lag halb auf der Seite und hielt sich mit der linken Hand immer noch am Tragseil der Gondel fest. Er wagte sich nicht zu bewegen. »Ein Dankgebet wäre jetzt am Platz, Sadik«, sagte er halb ernsthaft, halb mit Galgenhumor. »Die Landung hätte vielleicht eine Spur sanfter ausfallen können, aber wir wollen nicht kleinlich sein, was meinst du?«
Sadik stieß einen Stoßseufzer aus, der aus der allertiefsten Tiefe seiner Seele kam. »Die Erde hat uns wieder! Allah sei gepriesen für seine unermessliche Güte!«, murmelte er dann, offenbar fassungslos, dass der Tod sie nicht ereilt hatte. »Allah sei gepriesen für seine Güte!«
»Nichts für ungut, Sadik. Allah hat sicher hier und da seine Hand im Spiel gehabt, wenn ich auch nicht so genau weiß, wann das war. Aber vergiss nicht Onkel Heinrichs Ballon. Ehre, wem Ehre gebührt. Immerhin hat uns der Ballon heil aus Falkenhof rausgebracht und auch über dem See nicht schlappgemacht. Und ich gehe jede Wette ein, dass wir der ganzen Zeppenfeld-Bande jetzt mindestens eine gute Woche voraus sind.«
»Es war Allahs Wille!«, erklärte Sadik.
»Dann war es auch Allahs Wille, dass wir dich daran gehindert haben, Zeppenfeld in die Arme und seinen Komplizen vor die Gewehrläufe zu reiten«, erwiderte Tobias. »Wie ein fußlahmes Kaninchen auf freiem Feld hätten sie dich abgeschossen! Und dass Allah etwas gegen den Ballonflug hat, davon wirst du ja jetzt endlich geheilt sein, oder?«
»Allahs Ratschluss und Güte sind dem Menschen ein Rätsel«, antwortete Sadik orakelhaft.
»Zuerst wollen wir uns mal um das Rätsel kümmern, wie wir hier am besten raus und nach unten gelangen, ohne uns die Knochen zu brechen«, meinte Tobias. »Wäre nach alldem ein unrühmliches Ende.«
»Für jeden Bart gibt es eine Schere und für jedes Problem eine Lösung«, gab Sadik zur Antwort. »Ist bei dir irgendein starker Ast in Reichweite, an
Weitere Kostenlose Bücher