Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
gut bei Dunkelheit vornehmen, wenn alle anderen in ihren Betten liegen und nicht mal im Schlaf davon zu träumen wagen, dass wir fünfzig, hundert Meter und höher mit unserem Ballon am Himmel stehen! Und wenn wir dann mit der Handhabung des Falken vertraut sind und ich meine wichtigsten Experimente in aller Ruhe abgeschlossen habe, nun gut, dann dürfen auch die anderen ihren Spaß haben.«
Tobias fand die Angelegenheit immer spannender. Nächtliche Ballonaufstiege am Fesselseil! Es klang fast zu phantastisch in seinen Ohren. Doch wenn Onkel Heinrich so etwas sagte, dann konnte man Haus und Hof darauf verwetten, dass er es in die Tat umsetzte.
Das letzte Stück Fahrt vor die Tore von Mainz verlief in einträchtigem Schweigen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und Tobias hatte sehr viel, worüber er nachdenken und wovon er träumen konnte.
Nachts im Ballon!
Und das wäre erst der Anfang!
Raues Tuch um einen Seidenfalken
Eine mächtige Festungsanlage mit mehr als einem Dutzend sternförmig vorgeschobenen Bastionen umschloss die Stadt Mainz. Und trutzig ragte im Süden der Stadt die alles beherrschende Zitadelle auf.
Sie fuhren durch das Gau-Tor in die Stadt hinein, zwischen den Bastionen St. Philippi zu ihrer Rechten und St. Martini zu ihrer Linken. Sadik brauchte keine Angabe des Weges. Schon nach den ersten Besuchen hatte sich ihm die Lage der Straßen zueinander ins Gedächtnis eingeprägt. Als Tobias sich verwundert darüber geäußert hatte, wie schnell er sich in einer ihm doch völlig fremden Stadt zurechtfand, hatte Sadik ihm belustigt geantwortet: »Verglichen mit dem Gassenlabyrinth von Kairo ist Mainz doch nur ein so leicht zu überschauender Ort wie eine Karawanserei in einer kleinen Oase!«
Als Sadik die Kutsche durch das Gau-Tor lenkte, erinnerte er sich wieder daran und dachte mit einiger Wehmut an seine Heimat. Wahrlich, was war dieses Festungstor schon im Vergleich zum prächtigen Al-Qantara-Tor von Kairo, hinter dessen Zinnen sich ein wahres Meer von funkelnden Kuppeln, Minaretts und Türmen erhob?
Das schwarze Wolltuch erstickte seinen schweren Seufzer. Es war bald an der Zeit, dass er in seine Heimat zurückkehrte. Schon seit Wochen träumte er nur noch von der Weite der Wüste, von Oasen und Feigenbäumen, die sich unter ihrer süßen Last bogen, vom Gesang des Muezzins hoch oben in der Spitze des Minaretts, vom wiegenden Gang eines Kamels, von den bleichen Segeln der Feluken auf dem schlammigen Nil, den tausend Wohlgerüchen und dem Gefeilsche auf den Basaren und – mehr als alles andere – von wärmender, alles durchdringender Sonne!
Ja, wenn ihm Tobias nicht so sehr ans Herz gewachsen wäre, er hätte trotz aller Herzlichkeit, die ihm auf Falkenhof widerfuhr, längst sein Bündel gepackt und die lange Reise nach Ägypten angetreten. Chartum wäre sein Ziel. Dort würde er auf Sihdi Siegbert warten, wie es zwischen ihnen vereinbart war, auch wenn es lange dauern mochte, bis dieser den Sudan erreichte.
Tobias ahnte nichts von diesen Gedanken des Arabers, während sie die Gau-Gasse hinunterfuhren und zum Markt gelangten. Ihn beherrschten ganz der Ballon und die zukünftigen Abenteuer, die sie mit diesem erleben würden. Er hatte auch keinen Blick für das geschäftige Treiben auf den Straßen. Das Gedränge der Fuhrwerke, Kutschen, Reiter und Soldaten nahm er nur flüchtig zur Kenntnis.
Und Heinrich Heller? Nun, er bedauerte, als er hinausschaute, dass all die schönen Grünanlagen und Weinberge, die sich früher einmal innerhalb der Mauern der Stadt befunden hatten, dem Bau neuer Soldatenunterkünfte und Befestigungsanlagen zum Opfer gefallen waren. Nach der schweren Belagerung in den napoleonischen Befreiungskriegen von 1814 waren nicht nur alle französischen Straßennamen und Amtsbezeichnungen schnell abgeschafft worden, um einen Schlussstrich unter die Franzosenzeit zu setzen. Mainz war auch zur Bundesfestung erhoben worden. Garnisonen und Bollwerke hatten deshalb den Vorrang vor Parkanlagen und idyllischen Weinbergen erhalten. Die Allgegenwart von preußischen und österreichischen Truppen, zumal in einer solchen Stärke, verursachte ihm jedes Mal Unbehagen. Wo viel Militär ist, da bleibt wenig Raum für Freiheit. Da kann ein freier Geist nur beengt atmen.
»Ah, gleich sind wir da«, sagte er, um sich von seinen trüben Gedanken abzulenken. »Pagenstecher wird uns schon erwarten.«
»Fahren wir dann gleich wieder zurück?«
»Nein. Ich habe noch einiges
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