Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
andere in der Stadt zu erledigen. Und du willst doch bestimmt einen Blick auf den Rhein werfen, nicht wahr?«
»Ja, schon …« Es kam nicht gerade mit überschwänglicher Begeisterung. Der Rhein war ihm bekannt und blieb ihm – der Ballon dagegen war neu.
»Ich habe gestern vom jungen Schwitzing gehört, dass das Eis schon letzte Woche aufgebrochen ist und anderswo schwere Schäden angerichtet hat. Mainz soll aber nichts zu befürchten haben, dank der schweren Festungsmauer. Wohl das einzig Gute, was man von dem Bollwerk sagen kann«, bemerkte Heinrich Heller sarkastisch, während Sadik von der Tiermarktsgasse nach rechts in die Große Bleiche einbog. Viele Speditionen, Kolonialwarenhandlungen, Tabaksläden, Spezereien, Modegeschäfte, Weinhändler, Buchhändler und einige Wirtshäuser säumten die Straße dicht an dicht.
Das Angebot an Waren aller Art war in der Tat vielfältig und verlockend. Auf der Großen Bleiche verkaufte Jakob Nohaschek seine erlesenen Degen und Säbel, Philipp Dietrich »1001 Sorten Nudeln«, wie er für sich zu werben pflegte, und Klara Gebert ihre herrlichen Hutkreationen, die sich bei vielen Mainzer Damen außerordentlicher
Beliebtheit erfreuten.
Anton Haydn bot auf dieser Straße Schreib- und Zeichenmaterial sowie Tapeten in reichhaltiger Auswahl zum Kaufen und Joseph Beykirch, bekannt für seine exquisiten Kaschmir- und Seidenstoffe, Tuchwaren der gehobenen Preisklasse. David Goldschmitt hatte hier seine Wechselstube und Joseph Honig sein Maklerbüro. Ein Stück weiter unterhalb hatte Franz Merz, der Orgelmacher, sein Geschäft und Marie Seeger ihren Modesalon. Ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite hielt August Bembe in seinem Möbellager die in Mainz größte Auswahl an Kanapees, Diwans, Sofas und Stühlen für eine anspruchsvolle Kundschaft auf Lager.
Ja, ein Geschäft reihte sich an das andere, und die Große Bleiche gehörte zu den längsten Straßen der Stadt. Sie führte hoch oben vom Münster-Tor fast schnurgerade bis zur Festungsmauer am Rhein hinunter und mündete dort auf den großen Paradeplatz. Schiffsausrüster, Holzhändler und Seiler hatten an diesem unteren Ende ihre Lagerschuppen, Werkstätten und Kontore.
Sadik kam auf dieser Straße nur sehr langsam voran, denn er war nicht der Einzige, der die Große Bleiche an diesem sonnigen Vormittag befuhr. Wahrhaftig nicht! Der Strom der privaten Kutschen, Mietdroschken, hoch beladenen Fuhrwerke, Berittenen und der Warenauslieferer mit ihren kleinen Handkarren, die sich auf oftmals riskanten Wegen durch das Gewirr schlängelten, war noch dichter als am Markt. Und er wälzte sich in beide Richtungen!
Hinzu kamen noch die vielen Fußgänger. Dienstboten, die in Eile oder auch mit aller Zeit der Welt ihre Einkäufe tätigten und sich zu einem Klatsch an der Straßenecke und vor Geschäften zusammenfanden. Boten, die flinken Schrittes zwischen all den Gefährten und Passanten über die Straße eilten. Elegant gekleidete Damen und Herren in Pelzmänteln, mit Handschuhen, Pelzmuff und Hut, die nichts Bestimmtes zu kaufen im Sinn hatten und ihre Schritte von ihrer guten Laune und den Geschäftsauslagen lenken ließen. Junge Frauen auf ihrem Weg zur Putzmacherin oder zur Anprobe für ein neues Kleid, die gut aussehenden Offizieren in ihren schmucken Ausgehuniformen kokette Blicke zuwarfen – wenn sie sich von ihren Anstandsdamen nicht beobachtet wähnten. Und natürlich die übliche Zahl zerlumpter Gestalten, Bettler, Taschendiebe und Straßenjungen, die einen schweren Winter hinter sich hatten und sich das ihre von dem geschäftigen Leben und Treiben auf der Großen Bleiche erhofften.
Nun war es wirklich nicht mehr weit. Noch zwei Häuserblocks, und es ging links in die Zanggasse. Fast am Ende der Straße lag die kleine Tuchfabrik. Sebastian Heller & Söhne, stand in verschnörkelten Eisenlettern, die einen dunkelgrünen Anstrich trugen, über der Toreinfahrt. Kutsche und Fuhrwerk rollten in dem großen Ladehof vor den flachen Ziegelbau, in dem sich das Tuchlager befand.
Heinrich Heller hatte kaum den Kutschenschlag geöffnet und war ausgestiegen, auf den Fersen gefolgt von Tobias, als auch schon Arnold Pagenstecher auf den Hof eilte. Vom Fenster seines Kontors aus hatte er das Kommen der Kutsche seines Arbeitgebers bemerkt.
»Ah, der Herr Professor! Welch ein prächtiger Tag! Geradezu dafür geschaffen, um eine Fahrt in die große Stadt zu unternehmen und sich ein wenig unters Volk zu mischen, nicht wahr?«,
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