Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
denken. Dann brachte er das Tablett in die Küche zurück und lief in den Hof, wo Jakob und Klemens noch immer damit beschäftigt waren, die Bretter des Podestes zu vernageln. Es fehlten aber nur noch ein paar Quadratmeter. Bei Einbruch der Dunkelheit würden sie damit fertig sein, sodass sie am Morgen mit dem komplizierten Aufbau der hohen Pfosten beginnen konnten.
Janas Kastenwagen stand in der Kutschenremise. Er fand die Schatulle mit den Tarotkarten ohne langes Suchen. Das Kästchen und auch das magische Auge waren schon sehr abgegriffen, woraus er schloss, dass sie die Karten sehr oft zur Hand nahm. Er schaute jedoch nicht hinein. Aus einem unerfindlichen Grund hätte er das für einen Vertrauensbruch gehalten. Er ahnte, dass die Karten für sie eine große Bedeutung hatten und etwas ganz Persönliches waren.
Bald gab es Abendessen. Er brachte das Kästchen deshalb erst einmal auf sein Zimmer und suchte anschließend seinen Onkel in dessen Studierzimmer auf. Er schrieb etwas nieder.
»Störe ich, Onkel?«
Heinrich Heller schaute auf. »Nein, nein, komm nur herein. Ich bin sowieso ins Stocken geraten. Und zudem wird uns Agnes auch gleich zu Tisch rufen.«
»Schreibst du an einer neuen wissenschaftlichen Abhandlung?«
»Nein, ich sortiere nur meine Gedanken«, erwiderte er leichthin.
Tobias fiel auf, dass sein Onkel die halb beschriebene Seite von seiner Schreibunterlage nahm und sie in die linke Schublade schob, die er stets abgeschlossen hielt. Auch jetzt drehte er den Schlüssel um und steckte ihn in seine Westentasche. Das war ungewöhnlich, denn es war sonst seine Art, alles einfach liegen zu lassen oder nur zur Seite zu legen. Sehr selten hatte er gesehen, dass sein Onkel ein Schriftstück, an dem er gerade arbeitete, nicht liegen ließ, sondern wegschloss. Waren es geheimbündlerische Gedanken, die er da gerade formuliert hatte?
Heinrich Heller sah ihm offenbar an, welche Überlegungen ihn beschäftigten. »Zerbrich dir bloß nicht den Kopf, was das wohl war, was ich soeben weggeschlossen habe«, sagte er und bedachte seinen Neffen mit einem belustigten Blick. »Die Richtung, in die deine Vermutungen gegangen sind, stimmt schon. Das da«, und er deutete auf die verschlossene Schublade, »ist einer von den kleinen Schritten auf einer langen Reise. Das wolltest du doch wissen, nicht wahr?«
Tobias grinste, weil sein Onkel ihm angesehen hatte, was ihm durch den Kopf gegangen war, und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: »Könnte das vielleicht auch so ein Zündfunke sein, der das Pulverfass hochjagt?«
»Für so explosiv halte ich meinen bescheidenen Beitrag nicht, mein Junge. Man entfacht mit Schriften dieser Art nicht von heute auf morgen ein loderndes Feuer in den Köpfen angstvoller und träger Menschen. Wenn es in ihnen zu glimmen und zu schwelen beginnt, hat man es schon sehr weit gebracht. Denn das Stroh in den Schädeln der Gleichgültigen fängt leider nicht so schnell Feuer wie das vom Feld«, sagte er und der Sarkasmus in seiner Stimme war Ausdruck seiner inneren Enttäuschung. Würde er den Tag einer vereinten deutschen Nation und der Verwirklichung der Menschenrechte überhaupt noch erleben? Er schüttelte den kleinmütigen Gedanken ab wie ein lästiges Insekt, das einen Ochsen nicht auf seinem Weg beirren kann.
Und viel lebhafter setzte er hinzu: »Aber was in dieser Schublade liegt, ist doch explosiv genug, um eine Menge Leute in Pizalla Arme und von da geradewegs in den Kerker zu expedieren. Nämlich mich und dich, viele meiner Freunde und Mitstreiter und vielleicht sogar auch deinen Vater. Man weiß nie, wie Männer wie Pizalla die Wahrheit verdrehen, um auch andere ins Unglück stürzen zu können, die völlig unschuldig sind. Aus diesem Grunde darf der Inhalt dieser Schublade nie in falsche Hände geraten.«
Tobias nickte beklommen. Darüber, dass er selbst und auch sein Vater in Gefahr sein könnten, hatte er noch nicht nachgedacht.
»Sollte mir mal etwas passieren …«, fuhr Heinrich Heller fort.
»Was soll dir denn passieren, Onkel?«
Der Gelehrte lächelte. »Mein Junge, in meinem Alter können eine Menge Dinge passieren, auch wenn man seinen Kopf nicht so weit zum Fenster hinausstreckt, wie ich es tue. Aber auch ein junger Mensch ist nicht gefeit gegen die merkwürdigen Zufälle des Schicksals. Denk nur an Jana. Wären wir nicht Zeugen von Riebels Verhaftung gewesen, hätte ich wohl kaum das Bedürfnis gehabt, so schnell wieder nach Falkenhof zurückzukehren, und Jana
Weitere Kostenlose Bücher