Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
wäre im Schnee verblutet.«
Tobias mochte gar nicht daran denken.
»Also, sollte mir irgendwann einmal etwas zustoßen, dann sorge dafür, dass die Unterlagen aus dieser Schublade verschwinden. Versteck sie gut oder verbrenn sie«, trug Heinrich Heller ihm auf. »Den Schlüssel findest du hier in der Dose unter dem Tabak.« Er zog das unterste rechte Schubfach auf und holte eine alte, unansehnliche Blechdose hervor. »Ich kaufe regelmäßig frischen Tabak, obwohl ich mir das Rauchen längst abgewöhnt habe, damit niemand auf die Idee verfällt, die Dose könnte einen anderen Zweck erfüllen.«
»Es wird bestimmt nichts passieren«, versicherte Tobias, um auch sich selbst zu beruhigen. »Aber ich weiß jetzt, wo der Schlüssel ist, und werde auch nicht vergessen, was du mir aufgetragen hast.«
»Gut. Es ist immer besser, auch für die scheinbar unwahrscheinlichsten Fälle Vorsorge zu treffen. Möge der Herrgott es uns allen ersparen, dass Pizalla oder seinesgleichen eines Tages Falkenhof auf den Kopf stellen. Aber wenn das geschieht, soll ihnen kein Triumph vergönnt sein. Und dabei wollen wir es belassen«, schloss Heinrich Heller das Thema in fast fröhlichem Plauderton ab. »Ich glaube, jetzt ist es Zeit, dass wir den Kochkünsten unserer werten Agnes die Ehre geben!«
Sie begaben sich ins Speisezimmer, und kaum hatten sie am Tisch Platz genommen, da erschien auch Sadik.
»Nun, wie lautet das heutige Bulletin aus dem Krankenzimmer?«, fragte Heinrich Heller.
»Al-Falak, 113. Sure«, antwortete der Araber in offensichtlich gehobener Stimmung.
Heinrich Heller schmunzelte. »Die Morgenröte! Eine sehr optimistische Sure. Sehr gut. Mit den letzten zwanzig Suren kenne ich mich aus, weil sie so kurz sind«, räumte er ein. »Allah hat sie also von dem Übel befreit, das er schuf.«
Sadik nickte. »Sie ist noch schwach, aber um ihr Leben brauchen wir uns nicht mehr zu sorgen, Sihdi. Ich bin sehr zufrieden, wie ihr Bein heilt. In ein paar Wochen wird nur noch eine Narbe von ihrer Verletzung erzählen.«
»Wie lange muss sie denn noch das Bett hüten?«, wollte Tobias wissen.
»Sie hat gutes Wundfleisch, die Zigeunerin …«
»Jana ist keine Zigeunerin«, korrigierte Tobias den Araber sogleich. »Darauf legt sie großen Wert!«
Spöttisch zog Sadik die Augenbrauen hoch. »So? Tut sie das?«
»Ja, sie kann jonglieren, auf dem Seil tanzen und die Karten schlagen, aber eine richtige Zigeunerin ist sie nicht. Fahrendes Volk nennen sie sich, Könige und Bettler der Landstraße.«
»Streite nie mit dem Stadtherrn oder einer Zigeunerin, heißt es bei uns«, entgegnete Sadik ungerührt. »Und die Wege zur Hölle sind gepflastert mit Weiberzungen.«
Heinrich Heller lachte auf.
Tobias fand Sadiks Sprüche aber gar nicht zum Lachen. »Mach dich nur darüber lustig. Ich glaube ihr!«, sagte er erbost.
Sadik zuckte mit den Achseln. »Der Muezzin muss rufen, beten mag, wer beten will«, erwiderte er lakonisch.
Heinrich Heller beendete den Streit, bevor er richtig aufflammen konnte. »Was macht es auch für einen Unterschied, ob sie nun Zigeunerin ist oder nicht. Hauptsache, es geht ihr gut und sie kommt bald wieder auf die Beine, im wahrsten Sinne des Wortes.« Und zu Sadik gewandt, sagte er: »Du wolltest uns mitteilen, wie lange sie wohl noch im Bett bleiben muss.«
»Eine gute Woche, nehme ich an. Dann kann sie wohl die ersten Gehversuche unternehmen.«
Tobias schluckte seinen Groll hinunter. »Aber weiterziehen kann sie dann noch nicht, oder?«, wollte er von ihm wissen.
Sadik sah ihn mit einem offenen Lächeln an, als hätte es eben keine Verstimmung zwischen ihnen gegeben. »Hast du es so eilig, dass sie vom Gut verschwindet?«
Tobias errötete. »Nein, nein! Ich wollte es nur wissen.«
»Drei Wochen wird es schon noch dauern, bis wir sie wieder sich selbst und der Landstraße überlassen können«, schätzte Sadik. »Man wird sehen …«
»Du hast an den Ballon gedacht, nicht wahr?«, erriet Heinrich Heller den Grund von Tobias’ Frage.
»Ja«, gab er etwas verlegen zu. »Wenn Jana schon in einer Woche aufstehen kann, wird sie nachts bestimmt das Bett verlassen und nachsehen, was wir zu so später Stunde noch im Hof zu schaffen haben. Denn ganz ohne Lärm wird es doch bestimmt nicht möglich sein, den Ballon zu füllen und aufsteigen zu lassen, oder?«
»Ganz gewiss nicht«, pflichtete ihm sein Onkel mit nachdenklicher Miene bei. »Es wird sogar eine Menge Lärm geben.«
»Es ist kein Zufall, dass uns
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