Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
an einer Epidemie gestorben sein, noch in Polen, im Winterquartier eines kleinen Zirkus, dem sie sich angeschlossen hatten. Aufgewachsen bin ich bei meiner Tante Helena und meinem Onkel René!«
»Also so wie ich!«
Sie zögerte. »Na ja, nicht so ganz. Denn Helena ist nicht wirklich meine Tante und Rene schon erst recht nicht mein Onkel.«
»Was heißt nicht wirklich? Das klingt kompliziert.«
Jana lachte. »Ach, Helena ist nur über tausend Ecken mit meiner Mutter verwandt gewesen und hat mich zu sich genommen, als meine Eltern starben. So drei muss ich damals gewesen sein.«
»Und wie alt bist du jetzt?«
»So genau weiß ich das nicht. Sechzehn, glaube ich.«
»So alt bin ich auch!«
»Helena ist nicht gut im Rechnen. Aber ich habe Schreiben und Lesen von Rene gelernt – und Jonglieren und Akrobatik auf dem Seil«, erklärte sie stolz. »Aber am besten schlage ich die Karten!«
»Rene ist aber doch kein polnischer Name, oder?«
»Natürlich nicht. Er ist ja auch kein Pole, sondern halb Franzose und Deutscher, so hat er jedenfalls erzählt, und er erzählt viel, wenn die Abende lang sind und noch Branntwein in der Flasche ist. Aber als Jongleur und Seiltänzer ist er wirklich einmalig. Seine Nummer hat immer viele Leute angelockt«, berichtete Jana. »Er lebt auch nur so mit Tante Helena zusammen … du weißt schon.«
»Nein«, sagte Tobias begriffsstutzig.
»Na, eben als ihr Geliebter.«
Tobias wurde leicht rot im Gesicht. »Ach so«, sagte er gedehnt. »Und mit den beiden bist du durch die Lande gezogen?«
»Ja, als Könige und Bettler der Landstraße!«, verkündete sie mit glänzenden Augen. »So sehen wir uns selber.«
»Das sind aber zwei Extreme!«
»Ja, wie eben das Leben auf der Landstraße auch ist! Denn es ist immer ein Auf und Ab. Mal geht es uns ganz toll und dann folgen wieder schwere Zeiten. Vor allem im Winter, wenn das Wetter schlecht ist und nirgendwo fahrendes Volk gut gelitten ist. Im Frühjahr aber wird es dann wieder lustig. Es beginnt mit den großen Maifesten, und bis in den Herbst hinein sind überall Volksfeste, wo man sich trifft und gute Geschäfte machen kann.«
»Dann hast du sicher schon eine Menge gesehen«, meinte er.
Sie tunkte einen Zwieback in die Suppe und schob ihn dann schnell in den Mund. »Und ob! Du glaubst gar nicht, was ich schon alles gesehen habe. Bist du schon mal in Danzig oder in Königsberg gewesen?«, fragte sie ein wenig undeutlich mit vollem Mund.
Tobias schüttelte den Kopf. Er war noch nie über die Gegend um Mainz hinaus gewesen.
»Ich aber! In Rostock waren wir, in Hamburg und Amsterdam. Ach, überall! Kreuz und quer sind wir gezogen. Ich war sogar schon mal in Frankreich. In Nancy lebt nämlich Renes Familie. Und in Berlin sind wir fast vier Monate gewesen. Da ging es uns richtig gut. Aber das ist schon ein paar Jahre her. In letzter Zeit sind wir viel durch Böhmen und Bayern gefahren. Immer von einem Volksfest zum anderen. Mal sind wir in großen Städten, doch meist in kleineren Orten. Da sind die Leute noch viel neugieriger, weil bei ihnen Zirkus und Schausteller nicht so häufig auftauchen wie in den großen Städten.«
Tobias spürte regelrecht Neid auf ihre Freiheit und auf das, was sie alles schon gesehen und erlebt hatte. Wie kümmerlich nahm sich dagegen sein Leben aus! »Und wo sind deine Tante und dein … Onkel jetzt?«
Jana zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich. Vielleicht noch in Wiesbaden. Es interessiert mich auch nicht.« Es klang ein wenig schroff.
Das ließ ihn aufhorchen. »Und warum bist du von ihnen weg?«
»Weil ich genug von ihnen hatte«, lautete die kurz angebundene Antwort, nachdem sie bisher so redselig gewesen war.
Tobias zuckte mit den Achseln. Gut, wenn sie darüber nicht reden wollte, würde er auch nicht weiter fragen. Zumindest vorläufig nicht. Aber irgendwann würde er den Grund schon aus ihr herauskitzeln, das nahm er sich in diesem Moment vor.
»Hast du denn keine Angst, so allein auf der Landstraße zu sein?«
»Hättest du Angst?«
»Natürlich nicht!«
»Also, warum sollte ich dann Angst haben?«, fragte sie zurück, wie verwandelt und irgendwie angriffslustig.
»Na ja, weil du doch ein Mädchen bist!«, sagte er verwirrt von der Art ihrer Fragen.
Ein blitzender Blick aus ihren tiefgrünen Augen traf ihn. »Und? Haben Mädchen vielleicht einen Arm oder ein Bein weniger als Jungen?«, fragte sie scharf. »Oder glaubst du, Mädchen und Frauen hätten da eine hohle Nuss, wo Jungen und
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