Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
für Sadik und Tobias die zweitschlimmste Phase ihres Planes – das Warten, dass der Alkohol seine Wirkung tat und niemand im Haus bemerkte, wie eine Gans nach der anderen betäubt ins Gras sank. Schon ein einziger forschender Blick aus einem der hinteren Fenster konnte ihr ganzes Vorhaben vereiteln. Wollten sie dann noch Jakob, Vierfinger-Jacques und dessen Frau auslösen, würden sie Zeppenfeld den Falkenstock zum Tausch anbieten müssen – ohne vorher sein Geheimnis entschlüsselt zu haben.
Bei dem Gedanken zog sich Tobias der Magen zusammen. Das durfte nicht passieren! Dann war alles vergebens gewesen, die Ballonflucht sowie die Gefahren und Strapazen der vergangenen Wochen. Und dann hatten mit Zeppenfeld die Ungerechtigkeit und das Böse doch noch gesiegt.
Alles auf eine Karte!
Verkrampft und bis zu den Hüften im Ufermorast kauerten sie zwischen dem Schilf und nahmen den Blick nicht von der Rückfront des Gasthofes. Ihre innere Anspannung ließ sie in bangem Schweigen verharren, als fürchteten sie, schon ein geflüstertes Wort könne die Katastrophe herbeiführen. Die hingestreckten Körper der betäubten Gänse sprenkelten die Wiese und das Gefiederweiß sprang in der Nacht so nachdrücklich ins Auge, dass eine Entdeckung unausweichlich erschien.
Dazu bedurfte es nur eines einzigen Blickes!
Das Warten zerrte an ihren Nerven, während die Kälte in ihre Glieder kroch. Hatten sie anfangs das Wasser des Teiches als lauwarm empfunden, schien es ihnen nun so, als säßen sie in einem Eisbecken.
Das Branntweinbrot hatte die gewünschte Wirkung erzielt. Eine Gans nach der anderen war vom Alkohol umgeworfen worden. Bis auf zwei, die noch immer auf den Beinen standen und daher Sadik und Tobias zwangen in ihrem Versteck weiter auszuharren.
Hatten diese beiden Gänse vielleicht nichts von ihren Schlummerhappen geschluckt? Wenn das der Fall war, war ihr Plan fehlgeschlagen.
Tobias fror und schwitzte abwechselnd. Sadiks Hand legte sich plötzlich auf seinen Arm und drückte zu, während er einen unterdrückten Laut des Erschreckens von sich gab, nicht lauter als ein scharfes Atemholen.
Im selben Augenblick hörte Tobias, dessen Aufmerksamkeit gerade den beiden Gänsen gegolten hatte, das typische Geräusch eines klemmenden Fensters, das mit einem Ruck geöffnet wurde. Entsetzt hob er den Kopf und sein Blick ging an der Rückfront hoch.
Eines der Fenster im Obergeschoss war aufgerissen worden. Wie gelähmt starrte er auf die dunkle Öffnung im hellen Fachwerk des Hauses. Der Alarmschrei! Jeden Augenblick musste ein Schrei aus diesem Zimmer in die Nacht hinausgellen. Verloren! Alles verloren!
Doch der Schrei blieb aus.
Tobias glaubte erst, das Entsetzen hätte ihn taub werden lassen oder ihm jegliches Gefühl für die Zeit genommen, so dass ihm die Schrecksekunde des Mannes dort oben im Zimmer wie Minuten erschienen. Doch dann lockerte sich Sadiks schmerzhafter Griff um seinen Arm und er hörte ihn mit erlöster Stimme flüstern: »Gelobt sei Allah, der uns fernhält vom Übel und vom Irrtum! Seine Güte und Barmherzigkeit ist grenzenlos!« Das leichte Zittern in seiner Stimme verriet, dass auch er das Schlimmste erwartet hatte.
Tobias begriff, dass derjenige, der dort oben das Fenster geöffnet hatte, keinen Blick in die Nacht geworfen hatte. Der bittere Kelch war noch einmal an ihnen vorübergegangen. Aber wie knapp war das gewesen!
Sadik stieß ihn an. »Mach dich bereit! Wir können uns aus dem elenden Morast wagen«, raunte er ihm zu.
Tobias’ Blick suchte die beiden Gänse, die eben noch umhergewatschelt waren, konnte sie jedoch nirgends finden. Endlich hatte der Alkohol auch sie niedergestreckt!
Eine Zentnerlast fiel von Tobias ab. »Ja, endlich«, flüsterte er erlöst. »Das Warten hier war das Schrecklichste, was ich je erlebt habe. Lieber trete ich einem Dutzend Tillmanns und Zeppenfelds mit der Klinge entgegen, als dass ich so etwas noch einmal erleben muss!«
»Ein Dutzend muss es ja nun nicht gleich sein«, gab Sadik leise zurück. »Wir werden auch so schon alle Hände voll zu tun haben.«
»Da oben scheint sich einer hingelegt zu haben.«
»Ja, einer! Aber wir können nicht hoffen, dass wir alle im Schlaf überraschen. Im Schankraum brennt noch immer Licht. Und wie ich Zeppenfeld kenne, wird er dafür gesorgt haben, dass mindestens einer von seinen Männern Wache hält. Los, schauen wir uns um.«
Vorsichtig krochen sie aus dem Schilf an Land und hasteten mit ihren
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