Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
keinen Unterleib? Er arbeitet bloß raffiniert mit Licht und Spiegeln um diese optische Täuschung zustande zu bringen! Das Gleiche gilt für so vieles andere, was auf einer Kirmes an sogenannten unglaublichen Attraktionen geboten wird. Nur: Mein Kartenschlagen ist kein Humbug. Das nehme ich ernst! Ohne dass ich aber verlange, dass irgend jemand anderer es ernst nehmen müsste!«
»Der Mensch stolpert häufiger über seine Zunge als über seine Füße«, erwiderte Sadik selbstkritisch und sah Jana mit einem Lächeln an. »Womit ich sagen will, dass ich dich nicht verletzen wollte, Jana.«
»So schlimm habe ich es auch nicht aufgefasst«, erwiderte sie ohne jeden Groll.
»Ich finde die ganze Angelegenheit ja ungeheuer interessant«, meldete sich Tobias nun zu Wort. »Aber das Wichtigste hast du uns zu erklären vergessen – nämlich wie du die Karten und die Zahlen erraten willst!?«
Ein schelmisches Lächeln teilte Janas Lippen und ließ ihre perlweißen Zähne leuchten. »Wenn du bereit bist, mein Gehilfe zu sein, wirst du sie mir verraten – und niemand wird es bemerken.«
Er grinste. »Vom Fuhrknecht zum Magier-Assistenten – das lass’ ich mir gefallen. Nur ist mir noch immer schleierhaft, wie ich so schnell zu einem … na ja, Gaukler werde, der dir die gezogenen
Karten und Zahlen verrät, ohne dass die Zuschauer das merken.«
»Ganz einfach: durch ein System aus verabredeten Zeichen und Redewendungen«, eröffnete sie ihm amüsiert. »Wenn jemand beispielsweise eine Bildkarte gezogen hat, dann sagst du: ›Aufgepasst, verehrtes Publikum!‹ Damit weiß ich dann schon, dass alle Zahlkarten aus dem Spiel sind. Handelt es sich etwa um die Herz-Dame, dann hältst du die Karte in der linken Hand, die ja dem Herz am nächsten ist. Bei Kreuz hakst du den Daumen deiner linken Hand hinter den Gürtel. Sollte es zufällig eine Kreuz-Dame sein, dann nimmst du den rechten Daumen. Ein flüchtiger Griff an die scheinbar juckende Nase weist auf einen Buben hin. Die Karte in der Rechten bedeutet König und so weiter. Sagst du aber nach dem Ziehen der Karte: ›Ich bitte um allergrößte Ruhe, verehrtes Publikum!‹, so hältst du eine Zahlkarte in der Hand und alle weiteren Bewegungen und Redewendungen verraten mir dann die Nummer.«
Tobias lachte. »Raffiniert!«
»Aber auch höchst kompliziert«, warf Sadik ein. »Ihr müsst bei diesem Spiel ja Dutzende von Kombinationen im Kopf behalten haben – vor allem wenn es darum geht, eine Zahl von null bis hundert zu verschlüsseln.«
»Dass es ein Kinderspiel ist, habe ich ja auch nicht behauptet. Wenn man nichts im Kopf hat, kann man nun mal kein guter Gaukler sein«, sagte Jana nicht ohne Stolz. »Was nun die hundert Zahlen betrifft, so gibt es zehn Redewendungen, die jeweils eine Zehnergruppe verraten. ›Verehrtes Publikum!‹ bedeutet, dass eine Zahl von null bis neun zu raten ist. Bei ›Achtung, verehrtes Publikum!‹ handelt es sich um eine Zahl von zehn bis neunzehn. Sagt der Gehilfe ›Ich bitte um Aufmerksamkeit!‹, geht es um die Zahlen von zwanzig bis neunundzwanzig. Um dann die genaue Zahl in jeder Gruppe festzulegen, bedient sich der Gehilfe festgelegter Gesten. Die Schatulle ist dabei ein ungemein nützliches Hilfsmittel. Dreht sich der Gehilfe mit dem Kästchen zu mir um und hält er es in der linken Hand, heißt das: Es ist die erste Zahl der Gruppe, nach der Einleitung ›Verehrtes Publikum‹ also die Zahl Null. In der Rechten ist es die zweite Zahl. Liegt die rechte Hand oben auf dem Deckel, ist es die dritte, liegt die linke oben, ist es die vierte, hält er sie mit beiden Händen seitlich, ist es die fünfte. Stellt er sie mit dem Schloss zu mir auf den Tisch, handelt es sich um die sechste.
Zeigen die Scharniere in meine Richtung, ist es die siebte, klopfte er nach dem Absetzen mit den Fingerspitzen auf den Deckel, während er um Ruhe bittet, damit ich mich konzentrieren kann, ist es die achte. Klopft er mit den Knöcheln, ist es die neunte, lässt er seine flache Hand die ganze Zeit auf dem Deckel liegen, so verrät er mir damit, dass es die zehnte Zahl ist.«
»Toll!«, entfuhr es Tobias beeindruckt. »Wer merkt schon, dass Worte und Gesten irgendetwas bedeuten könnten?«
»Ja, toll«, pflichtete Sadik ihm ein wenig spöttisch bei. »Vor allem hast du toll was auswendig zu lernen, wenn Jana nicht zum Gespött der Zuschauer werden soll.«
»Du vergisst, dass ich so gut wie jeden Text innerhalb von wenigen Augenblicken auswendig lernen
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