Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
kann, wenn ich ihn nur schriftlich vor meinen Augen habe und mich entsprechend konzentriere«, erinnerte ihn Tobias.
»Ist das wahr?«, fragte Jana skeptisch.
»Aiwa, Allah hat ihn in der Tat mit einigen außergewöhnlichen Gaben gesegnet«, antwortete Sadik für ihn und fügte scherzhaft hinzu: »Womit wieder einmal bewiesen ist, dass die göttliche Gnade manchmal wundersame Wege geht.«
»Ja, davon weißt du ein Lied zu singen, nicht wahr?«, spottete Tobias gut gelaunt zurück.
»Wenn das stimmt, haben wir die Nummer ja im Handumdrehen einstudiert«, meinte Jana begeistert. »Aber dass du wirklich so wahnsinnig schnell etwas auswendig lernen kannst, kann ich gar nicht glauben!«
»Bring mir ein Buch und ich beweise es dir!«, forderte er sie vergnügt auf.
Jana sprang auf, kletterte in ihren Wagen und kam mit einem Buch zurück, das Tobias ihr vor Wochen zum Abschied geschenkt hatte. Es war Daniel Defoes Robinson Crusoe. Sie schlug den Roman in der Mitte auf und hielt ihm das Buch hin.
»Da, die linke Seite!«, forderte sie ihn auf. »Jetzt bin ich wirklich gespannt.«
Tobias nahm das aufgeschlagene Buch entgegen und konzentrierte sich. Angespannt beobachtete Jana, wie sein Blick über die Zeilen flog. Und als er ihr das Buch schon nach weniger als zwei Minuten wieder zurückgab, hegte sie insgeheim die feste Überzeugung, dass niemand in so kurzer Zeit einen derart langen Text im Gedächtnis behalten konnte.
»Ich höre, Tobias.«
Er schloss kurz die Augen, holte tief Luft und begann dann aus der Erinnerung ›vorzulesen‹.
Mit wachsender Fassungslosigkeit verglich Jana seine Worte mit dem Text im Buch. Es gab nicht die geringste Abweichung. Er wiederholte Wort für Wort, was im Roman geschrieben stand! Es war unglaublich! Und dabei hatte er doch kaum mehr als einen längeren Blick auf diese Seite geworfen!
»›Es wurde mir nur allzu bald klar, dass dieser Fußabdruck kein Schreckgespenst, sondern etwas viel Schlimmeres war‹«, spulte Tobias derweil den Text in flüssigem Tempo weiter ab. »›Er musste von einem Eingeborenen stammen, der vom gegenüberliegenden, wenn auch entfernten Festland gekommen war. Es waren Eingeborenenkanus gelandet. Sie waren von den Strömungen oder von widrigen Winden hierher verschlagen worden um dann …‹«
Jana hob die Hände. »Lass gut sein! Das reicht, Tobias! Heilige Muttergottes, das reicht wirklich! Du kannst es tatsächlich!«, stieß sie tief beeindruckt hervor und gleichzeitig strahlten ihre Augen vor Begeisterung. »Wie machst du das bloß?«
Tobias zuckte mit den Schultern. »Da fragst du mich zu viel. Ich kann es einfach – so wie du eben was mit Tarotkarten anfangen kannst.«
»Und du könntest so ein Buch von vorn bis hinten auswendig herunterrasseln, wenn du die Seiten so schnell überfliegst?«
Er verneinte. »Das klappt nur bei ein paar Seiten. Irgendwie lassen dann die Konzentration und das Aufnahmevermögen nach. Auf jeden Fall müsste ich Pausen einlegen und mir auch mehr Zeit nehmen. Um so einen Roman auswendig zu lernen brauchte ich schon ein paar Wochen, damit der Text von der ersten bis zur letzten Seite auch sitzt.«
Jana verdrehte die Augen. »Schon ein paar Wochen! Mein Gott, ich könnte es noch nicht mal nach einem Jahr! Deine Begabung ist Gold wert, weißt du das?«
Sadik, der wortlos seinen Kaffee geschlürft hatte, räusperte sich. »Wissen ist besser als Reichtum«, sagte er mit sanftem Tadel. »Um Reichtum musst du dich kümmern. Wissen dagegen kümmert sich um dich.«
»Das ist alles schön und gut, Sadik, aber wer sein Wissen und seine Begabungen nicht auch praktisch zu nutzen versteht, für den ist der Jahrmarkt nicht gerade der richtige Ort«, erwiderte Jana. »Denn die Pfanne und die Kaffeekanne füllen sich nicht von allein.«
»Du kannst ja wohl schlecht behaupten, ich hätte meine Begabung nicht sinnvoll genutzt«, äußerte sich auch Tobias zu Sadiks moralischer Ermahnung. »Ich habe auf diese Weise mehr Sprachen gelernt, als du und mein Vater zusammen beherrschen, und das gilt auch für einige andere Lehrfächer. Jetzt werde ich diese Fähigkeit eben dafür einsetzen, um Assistent einer Gedankenleserin zu werden. Ihr ein bisschen zu helfen ist ja wohl das mindeste, was wir für sie tun können, oder?« Er bedachte seinen arabischen Freund mit einem verschmitzten Blick. »Und wenn mich nicht alles täuscht, hätte dein so oft zitierter Scheich Abdul Kalim jetzt dazu gesagt: ›Der Turban bedeckt nicht den
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