Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
höchst verwirrend. Alles schien sich auszudehnen und zusammenzuziehen, als atme die Kammer. Plötzlich sahen sie eine Gestalt, die reglos auf einer niedrigen Sitzbank lag.
»Alduin!«, rief Erilea, rannte hinüber und kniete sich neben ihren Freund.
Sie ergriff seine Hand, hob sie sich an die Wange und benetzte sie mit den Tränen, die ihr über das Gesicht rannen.
»Alduin, komm zurück! Wo bist du?«
Verzweifelt schaute sie zu Rael auf. Während er auf seinen Freund hinabblickte, schüttelte er ratlos den Kopf.
»Warum? Warum bist du deinem Vater gefolgt?«, fragte er, als könnte Alduin ihn hören. »Du hast die Gefahr doch gekannt.«
»Er kannte sie, aber er wollte nicht glauben, dass er ihr erliegen könnte«, schluchzte Erilea.
»Nein«, stimmte Rael ihr zu. »Er war überzeugt davon, dass er das erreichen könnte, was seinem Vater versagt blieb. Er dachte, er könnte die Oberhand behalten.«
»Gibt es denn gar nichts, was wir tun können?«, fragte Erilea flehentlich. »Gibt es keine ...«
Plötzlich sprang sie auf und sah sich um.
»Wo ist Rihscha? Wenn wir nur Rihscha finden könnten, bestünde vielleicht noch Hoffnung.«
Ihre Augen suchten jeden Winkel ab, doch es gab kein Anzeichen von Alduins Falken.
»Und wo ist Sivella?«, fragte sie.
Rael bedachte sie mit einem erschrockenen Blick, dann schloss er rasch die Augen. Erilea beobachtete, wie ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel hochzog, als er die Verbindung mit seinem Falken einging. Dann sog er scharf die Luft über die Lippen ein, und ein Ausdruck tiefen Friedens breitete sich über seine Züge aus. Er seufzte, und es war ein Seufzen von so umfassender Zufriedenheit, dass Erilea einen tiefen Stich verspürte. »Rael!«, kreischte sie. »Wag das bloß nicht! Komm zurück!«
Von der Angst in Erileas Stimme zurückgerufen, schlug Rael die Augen auf. Verwirrt schüttelte er den Kopf.
»Es war unglaublich! Einen kurzen Augenblick ... Ich weiß nicht, wo ich war ... oder wo Sivella ist ... Aber es war überwältigend ... Ich konnte spüren, wie sich mein gesamtes Wesen zum Flug mit ihr erhob!«
»Im Namen Emos! Bin ich etwa dazu verflucht, jeden einzelnen Freund zu verlieren, den ...«, setzte Erilea an.
»Manchmal muss man alles verlieren, um mehr zu erlangen. »Eine volltönende Stimme schallte vom gegenüberliegenden Ende der Halle zu ihnen herüber.
Erilea und Rael wirbelten herum und rissen vor Erstaunen den Mund auf. Unter einem der Torbogen stand das seltsamste Paar, das ihnen je begegnet war. Ein Mann mit einem schnabelnäsigen Gesicht, das Strähnen schneeweißen Haares säumten. Er trug einen langen Umhang aus Federn. Die Frau neben ihm hatte katzengleiche Züge und eine Mähne aus goldenen und roten Locken. Sie war bekleidet mit Fellen und trug Bogen und Pfeile. Beide Gestalten waren von einem strahlenden Licht umgeben.
»Fürst Gilian! Göttin Emo!«, hauchte Erilea, die ihre Namen kaum auszusprechen wagte.
Sie sank auf ein Knie, neigte das Haupt und zerrte an Raels Hand, damit er es ihr gleichtat. Der junge Raide jedoch stand wie erstarrt da, als wäre jede Bewegung ein Zeichen der mangelnden Achtung.
Die beiden Gottheiten näherten sich den jungen Leuten mit einer Mischung aus Belustigung, Neugier und Respekt in den Augen.
»Dass ihr hier seid, ist eine beachtliche Leistung«, erklärte Gilian. »Menschen besitzen eine erstaunliche Kraft, die alles übersteigt, was sie sich vorstellen können. Es ist die Macht der Liebe. Sie vermag selbst die mächtigsten Hürden zu überwinden, die wir Götter schaffen.«
»Aber ... aber es war Emo, die mir den Weg gezeigt hat«, stammelte Erilea und war verblüfft darüber, dass sie es wagte, ihm zu widersprechen.
»Ja«, bestätigte ihr Emo, und wenn Erilea sich nicht täuschte, schwang ein Lachen in ihrer Stimme mit. »Ich kann der Macht der Liebe nun mal nicht widerstehen, wenn sie mich ruft!«
Sie griff mit einer Hand herab, hob Erileas Kinn an und betrachtete das junge Mädchen mit liebevollem Blick.
»Steh auf, mein Kind«, forderte sie Erilea auf. »Vergiss deine Sorgen. Es ist nicht möglich, etwas zu verlieren, was wirklich ist.«
»Was ... was soll das bedeuten?«, fragte Erilea und erhob sich unsicher.
»Es sind deine Wünsche, deine Vorstellungen, die dich leiden lassen. Sie sind nicht echt, aber ihr haltet sie dafür. Und wenn diese Vorstellungen aus eurem Leben verschwinden, habt ihr das Gefühl, etwas verloren zu haben. Tatsächlich aber habt ihr nichts
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