Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
Wir haben noch eine lange Reise vor uns. Erst nach Lemrik, dann weiter nach Osten«, sagte Erilea, wobei sie sich direkt an den Jungen richtete, der einigermaßen überrascht war über die direkte und ausführliche Ansprache einer Frau. Kurz darauf zog ein scheues Lächeln seine Mundwinkel hoch, und Erilea hatte das Gefühl, vielleicht ein winziges Samenkorn gepflanzt zu haben. Wozu mochte es wohl gut sein?
Alduin verstaute den Proviant in den Satteltaschen, schwang sich auf Fea und reichte Erilea die Hand.
»Meine Dame?«, sagte er.
»Vielen Dank«, antwortete sie lachend, ergriff seine Hand und ließ sich hochheben, bis sie bequem vor ihm saß.
»Hier entlang«, rief Wendle und ritt in Richtung des Waldes.
»Leb wohl«, rief Erilea dem Jungen zu und winkte ihm zum Abschied nach. Sie wurde durch ein noch breiteres Lächeln belohnt.
Die beiden Pferde folgten einem Pfad in den Wald. Bald rückten die dunklen Bäume dichter zusammen. Sie waren noch nicht weit geritten, als es steil bergab zum Gwire ging. Sie bogen in einen Seitenpfad ab und gelangten von dort aus in eine felsige Rinne, als das Tageslicht bereits dem Einbruch der Nacht wich.
Wendle parierte ihren Hengst vor einer Gruppe einfacher Holzhäuser, die um einen gemauerten Schacht gewürfelt waren. Darüber baute sich ein hohes Holzgerüst auf, gezimmert aus massiven Balken. Drei Seiten waren mit Querlatten geschlossen, die vierte als Eingang offen belassen. Über einem Rundholz liefen Taue über eisernen Rollen. Das käfigartige Konstrukt war gebaut worden, Menschen, Vieh und Ware in den Stollen abzusenken.
Als sie abstiegen, öffnete sich die Tür einer der Hütten. Zwei Männer kamen heraus, die Wendle mit einem Nicken begrüßten und zu den eigenwilligen Gerätschaften hinübergingen.
»Das ist unser unterirdisches Tunnelsystem«, erklärte Wendle Erilea. »Es wird dich nach unten bringen. Und wenn du dort ankommst, führen Gänge in unterschiedliche Richtungen. Folge dem breitesten, dem mit den Laternen an beiden Seiten. Er wird dich zur anderen Uferseite führen. Gegen Ende hin kann es ziemlich ungemütlich werden, aber um diese Jahreszeit sollte es einigermaßen sicher sein. Auf der anderen Uferseite führt dich ein Pfad nach Lemrik. Es ist dann nur noch ein Tagesritt.«
»Der Pfad muss ganz nah an unserer Hütte vorbeiführen«, murmelte Alduin. »Ist das nicht wunderbar?«
»Vielen Dank, Wendle. Du hast uns sehr geholfen«, sagte Erilea.« Wie können wir dir eure Dienste vergelten?«
»Indem du keinem das Geheimnis unseres Tunnels preisgibst«, antwortete Wendle kurz, aber bedeutsam. »Die anderen Stollen führen zu unseren Kristallminen. Uns ist es lieber, wenn keiner etwas davon weiß. Auf der gegenüberliegenden Seite ist der Tunneleingang gut getarnt.«
Erilea nickte. »Natürlich werden wir euren Wunsch respektieren.«
Obwohl Wendle nur Erilea als Gesprächspartner anerkannte und Alduins Gegenwart nicht zur Kenntnis nahm, war ihr klar, dass Erilea auch für ihn sprach, als sie Wendle ihr Wort gab.
»Geh jetzt«, forderte Wendle sie auf. »Du und der Mann - ihr werdet eine Weile brauchen. Der letzte Abschnitt ist steil. Bis ihr auf der anderen Seite angekommen seid, wird es längst Nacht sein.«
Sie winkte den beiden, in die offene Seite des Holzkäfigs einzusteigen, während die Männer sich bereit machten, die Handkurbel zu drehen, mit der er abgesenkt werden sollte. Alduin und Erilea führten das Pferd in das hölzerne Verlies.
»Wartet einen Moment«, sagte Alduin mit fester Stimme, als die Männer gerade zu kurbeln anfingen. »Ich muss erst noch Verbindung mit meinem Falken aufnehmen. Er soll wissen, wo wir sind.«
Er schloss die Augen und wurde eins mit Rihscha, der auf einem felsigen Grat im Norden kauerte. Das Land ringsum war in purpurnes Zwielicht getaucht, und die Nacht senkte sich über Nymath.
Schlaf gut, Rihscha. Wir sind morgen früh wieder bei dir.
Alduin spürte die innere Übereinstimmung mit seinem Falken. Er verharrte für einen kurzen Moment und brach dann die Verbindung ab. Sein Blick suchte Wendles Augen, und diesmal konnte sie sich nicht abwenden. Es war, als stünde sie unter einem mächtigen Bann.
»Die Falkner von Nymath vergessen nie einen Dienst, den man ihnen erwiesen hat«, erklärte Alduin. »Ich danke Euch und werde mich stets daran erinnern!«
Die Männer an der Kurbel duckten sich, offenbar in banger Erwartung auf Wendles Reaktion. Doch zu ihrer Überraschung war sie eher verwirrt als
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