Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
Calborth kein Heiler war, so wusste er doch, was zu tun war. Mit geübtem Griff untersuchte er den schlaffen Körper. Doch auch er konnte nicht mehr herausfinden als Cardol und Ferl. Schließlich griff er nach den blassen Händen des Mannes und entdeckte aufschlussreiche Hinweise. »Er ist ein Raide und ein Falkner«, murmelte der Falkenmeister und nickte dabei bedächtig.
Dann strich er dem Fremden das verfilzte Haar zurück und band den Bart mit einem Lederriemen zusammen. Behutsam begann er, das Gesicht mit einem feuchten Tuch zu waschen, bis die blasse und durchscheinende Haut zum Vorschein kam.
Meister Calborth zögerte kurz, warf einen raschen Blick auf Alduin und murmelte etwas Unverständliches. Dann wandte er sich den Katauren zu. »Ich brauche eine Schere, mehr warmes Wasser und saubere Tücher.«
Cardol nickte und setzte sich in Bewegung.
»Und bittet Jungfer Marla, ein Bett vorzubereiten und ein paar frische Kleider mitzugeben«, rief der Falkenmeister hinterher. Ferl nickte und folgte seinem Gefährten.
Als der Falkenmeister mit Alduin und dem Fremden allein in der Apotheke war, blickte er den Jungen durchdringend an und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Alduin«, begann er leise. »Ich weiß nicht recht, wie ich es dir beibringen soll ... aber das hier ...«, er führte Alduin zum Tisch, »das hier ist dein Vater ...«
Erilea und Kariya lauerten mit schussbereiten Bögen im hohen Gras. Von der windabgewandten Seite aus beobachteten sie im Schutz der Bactibüsche eine Herde Burakrehe, die unbekümmert auf der Ebene grasten. Die Jägerinnen hatten sich für einen jungen Bock entschieden. Kariya gab Erilea ein Zeichen, sich noch etwas mehr von Westen heranzupirschen, um ihn aus sicherer Position erlegen zu können. Lautlos folgte Erilea der Anweisung ihrer Tante und robbte noch näher an das Tier heran. Ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, spannte sie den Bogen, bis sich die ganze Kraft auf ihre Muskeln übertrug, und gab den Pfeil frei. Als er davonschnellte, lenkte sie ein verschwommenes goldenes Etwas ab, das zwischen ihr und dem Bock aufblitzte. Sie konnte einen kurzen Aufschrei nicht unterdrücken und legte erschrocken die Hand auf den Mund. Im gleichen Moment hörte sie etwas Dumpfes aufschlagen. Die aufgeschreckte Herde sah für einen Bruchteil von Augenblicken zu ihr herüber, ehe sie von Panik ergriffen davonpreschte.
»Was im Namen Emos war das denn?«, fragte Kariya und lief zu ihrer Nichte.
»Ich weiß nicht, es kam wie aus dem Nichts.« Erilea hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ein klägliches Jaulen zu ihr drang.
»Hört sich an wie ein Kind!«, sagte sie. »Aber das kann nicht sein, oder?«
Kariya schüttelte den Kopf. »Nein. Vermutlich hast du eine Arekkatze erwischt. Sie hat wohl auch den Bock im Visier gehabt - eine Chance von eins zu einer Million - aber so etwas passiert eben!«
»Sie lebt noch ... und sie leidet!«, rief Erilea mitfühlend. »Was machen wir jetzt?«
»Sie von ihren Schmerzen erlösen. Bleibt uns keine andere Wahl. Ist zwar nicht gerade das, was wir vorhatten. Aber das Fell kann unser Stamm gut gebrauchen, und das Fleisch lassen wir schmoren, bis es zart wird.«
Kariya ging voran. Erilea folgte ihr nur zögernd. Sie fanden das verletzte Tier im niedrigen Gras. Das Licht der Sonne brach sich im goldfarbenen Fell. Das Winseln der Raubkatze ging in ein bedrohliches Knurren über, als die beiden Wunand vor ihr standen.
Der Pfeil war tief in die Brust eingedrungen und schmerzte offensichtlich mit jedem Atemzug. Als Kariya ihr Jagdmesser aus der Scheide zog, zuckte Erilea mitfühlend zusammen.
»Sie ist so wunderschön«, flüsterte sie. Das Tier brachte seine allerletzte Kraft auf, ihr den Kopf zuzuwenden. In seinen Augen lag etwas Ergreifendes. Gerade noch waren sie voller Leidenschaft, voller gebündelter Wachsamkeit gewesen. Jetzt wirkten sie glasig - wenngleich noch ein letzter Funke darin glomm, der Erilea in ihrem Innersten berührte.
Die Arekkatze hatte noch nicht aufgegeben. Sie konnte überleben, wenn sie eine Chance bekäme. Kariya und Erilea - die beiden waren es, die nun darüber entscheiden mussten: das Tier auf der Stelle zu töten oder es zu verschonen.
Ein unerklärliches Gefühl machte sich in der jungen Wunand-Amazone breit. Sie wusste, dass es nahezu aussichtslos war, die Wildkatze zu retten, und doch drängte alles in ihr danach, es zu wagen.
Kariya ging entschlossen einen Schritt vor und hob ihr Messer.
Weitere Kostenlose Bücher