Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
bleibe hier bei ihm. Ich will es als Teil meines Parnas betrachten.«
Kariya sah sie erstaunt an, doch Erilea hielt ihrem Blick trotzig stand. Nachdem sie ihre Ausbildung beendet hatte, war sie in das Alter gekommen, die Suche nach ihrer Bestimmung, ihrem Parna, aufzunehmen. Zu den Aufgaben der Selbstfindung zählte auch, eine Zeit lang alleine in der Wildnis zu überleben, zu fasten und Zwiesprache mit Emo zu halten, um Weisheit und Geleit für die Zukunft zu finden. Viele der zahlreichen Wunand-Stämme hielten sich längst nicht mehr an diese Tradition, wohl aber der Stamm, in dem Erilea aufwuchs. Sie fühlte, dass es ihr bestimmt war, das Tier in der Wildnis zu versorgen, und sah darin eine ungewöhnliche Herausforderung.
Kariya wirkte nachdenklich und nickte bedächtig. Sie konnte sich gut in Erilea hineinversetzen. »Ein ungewöhnlicher Gedanke. Aber vielleicht sogar ein guter«, sagte sie. »Du könntest für den Unterschlupf einen Ort hier in der Nähe suchen, das Tier bewachen und versorgen.« Sie schwieg einen Moment lang. »Aber zuerst wollen wir zum Stamm zurückkehren. Der Segen der Ältesten muss entscheiden.«
Erilea nickte. »Ich bin sicher, sie werden meinem Wunsch entsprechen.«
Sie legte ihren langen, aus Lederbändern geflochtenen Gürtel ab. »Damit können wir die Dökblätter festbinden«, sagte sie voller Tatendrang. »Hilfst du mir dabei?«
Ihre Tante beugte sich zu dem Tier, griff in das Fell und hob es an. Erilea schob den Gürtel darunter und verknotete die beiden Enden miteinander. Die Raubkatze keuchte schmerzerfüllt. »Wie bringen wir das Tier von hier weg?«, murmelte Karya bei sich.
»Wir werden Hilfe brauchen. Alleine schaffen wir das nie und nimmer. Wie wäre es, wenn du ohne mich zur Siedlung gehst und die Ältesten um den Segen bittest? Du könntest dann mit ein paar Männern zurückkehren. Ich halte hier in der Zwischenzeit Wache.«
Erilea schenkte ihrer Tante ein dankbares Lächeln, hob die Finger an die Stirn und verneigte sich leicht.
2
Alduin taumelte ein paar Schritte und keuchte nach Luft. Sein Blick war starr auf die reglose Gestalt gerichtet, die auf dem Tisch vor ihm lag. »Mein ... mein Vater?«, brachte er schließlich hervor und versuchte dabei, seine Stimme zu dämpfen. »Das ist nicht möglich! Er ist viel zu jung dafür.«
»Ich sagte doch, dass ich es dir nicht erklären kann«, gab Calborth zurück. »Das ist ohne Zweifel Cal - Falkner von Nymath seit ... rund zwanzig ...« Er unterbrach sich selbst, da alles, was er sagen wollte, so unglaubwürdig klingen würde.
»Aber warum ...? Wie kann das sein?«, stammelte Alduin.
»Ich weiß keine Antwort darauf. Denke, wir sollten das vorläufig für uns behalten. Später bleibt noch genug Zeit zu entscheiden, was zu tun ist.« Der alte Mann legte eine Hand auf Alduins Schulter. »Vertrau mir, Junge.«
Alduin nickte. Er konnte nicht sprechen, nicht in diesem Moment. Leise zog er sich in einen Winkel der Apotheke zurück und beobachtete, wie Meister Calborth damit fortfuhr, das Gesicht des Mannes - seines Vaters - zu waschen.
Es polterte an der Tür. Cardol kam mit zwei Eimern voll warmem Wasser und einer Schere zurück - hinter ihm Ferl mit einem Stapel Handtücher, einer Hose und einem Hemd. Die drei machten sich nun daran, Cals Körper gründlich zu waschen, nachdem sie das verfilzte Haar und seinen Bart erst einmal grob geschnitten, dann ordentlich gestutzt hatten. Von den starren Lippen des Bewusstlosen drang kein Laut, in seine reglosen Züge trat keine Veränderung, während sie ihn aus dem Rest der verschlissenen Kleider schälten und ihn bald hierhin, bald dorthin drehten, bis er sauber und wieder angekleidet dalag.
Alduin betrachtete sein Spiegelbild in einem der Wassereimer, doch sosehr er sich auch bemühte, fiel es ihm doch schwer, Ähnlichkeiten zwischen ihm und diesem Mann auf dem Tisch zu entdecken. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht irrte sich Meister Calborth? Vielleicht hatte Cal einen jüngeren Bruder oder Vetter gehabt? So viele Lehrlinge durchliefen die Ausbildung in der Falkenhalle, dass er sich gewiss nicht mehr an alle erinnern konnte.
Endlich war die Arbeit vollbracht. Ferl und Cardol hoben Cal zurück auf die Bahre und trugen ihn in das Zimmer, das Marla gerichtet hatte. Alduin blieb allein mit Meister Calborth zurück.
»Meine Mutter könnte es mit Gewissheit sagen«, meinte Alduin. Er merkte, wie seine Stimme zitterte. Er fühlte sich so unsicher wie damals, als er vor
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