Fallen Angels 01 - Die Ankunft
Wohnzimmer: Die Arbeitsflächen wiesen kreisförmige Flecke auf, von Dosen stammend, die wochenlang dort gestanden und Rost an die Oberfläche abgegeben hatten. Der Kühlschrank mit dem lockeren Türgriff war beige bzw. war es wahrscheinlich irgendwann mal gewesen - jetzt war schwer zu unterscheiden, was davon absichtliche Farbgebung und was Dreck und Moder war. Und die Schränke aus Kiefernholz … du großer Gott. Ursprünglich hatten sie mal geglänzt, aber inzwischen waren sie stumpf, und jene Flächen der Schränke, die unter der alten undichten Stelle in der Decke standen, waren übersät mit Blasen, dort wo sich der Lack löste, als hätte das Holz eine seltene Hautkrankheit.
Vin schämte sich für all das.
Das war sein Dorian-Gray-Haus. Die vor sich hin faulende Realität, die er in seinem sprichwörtlichen Dachboden verwahrte, während er dem Rest der Welt nur Schönheit und Wohlstand zeigte.
Vin blickte sich über die Schulter. Mit leicht geöffnetem Mund wanderte Marie-Terese umher, als sähe sie einen Film, der sie zu Tode ängstigte.
»Ich wollte Ihnen das zeigen«, sagte er, »weil es die Wahrheit ist und ich es sonst nie jemandem zeige. Meine Eltern waren beide Alkoholiker, mein Vater arbeitete als Klempner, meine Mutter war professionelle Raucherin, und das war’s im Prinzip schon. Sie haben sich viel gestritten und sind in diesem Haus gestorben, und ehrlich gesagt vermisse ich sie nicht, und es tut mir nicht leid. Wenn mich das zu einem Arschloch macht, dann ist das halt so.«
Marie-Terese trat an den Herd. Darauf, zwischen den Gasbrennern, lag ein alter Untersetzer. Sie nahm ihn in die Hand und blies den Staub weg. »The Great Escape …«
»Ein Freizeitpark oben im Norden. Schon mal davon gehört?«
»Nein, wie gesagt, ich bin nicht von hier.«
Er stellte sich neben sie und betrachtete das billige Souvenir mit dem roten Aufdruck. »Das hab ich auf einem Schulausflug gekauft. Ich dachte, wenn die anderen Kinder sähen, dass ich meiner Mutter etwas für den Haushalt schenke, dann kämen sie vielleicht nicht darauf, wie sie wirklich war. Aus irgendeinem Grund war diese Lüge sehr wichtig für mich. Ich wollte normal sein.«
Mit mehr Vorsicht, als er es verdiente, stellte Marie-Terese den Untersetzer wieder weg, blieb aber stehen und ließ den Blick weiter darauf ruhen. »Ich gehe jeden Dienstag- und Freitagabend zu einem Gebetskreis. In der St.-Patrick-Kirche.«
Ihm stockte der Atem, aber er zwang sich, gelassen zu bleiben. »Sind Sie katholisch? Ich auch. Oder zumindest haben meine Eltern in einer katholischen Kirche geheiratet. Ich selbst bin eher ein schwarzes Schaf.«
Zitternd nahm Marie-Terese einen tiefen Atemzug und strich sich die Haare hinters Ohr. »Ich gehe … gehe zu den Treffen, weil ich unter normalen Menschen sein möchte. Eines Tages wäre ich gern wieder wie sie.« Sie hob den Blick und sah ihm in die Augen. »Deshalb verstehe ich Sie. Ich verstehe … das alles hier. Nicht nur das Haus, sondern auch, warum Sie niemanden mit hierhernehmen.«
Vins Herz hämmerte in seiner Brust. »Das freut mich«, sagte er heiser.
Nun ließ sie den Blick wieder schweifen. »Ja … ich kann das alles sehr gut nachvollziehen.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. »Kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen den Rest des Hauses zeigen.«
Sie ergriff seine Hand, und die Wärme ihrer Haut veränderte ihn, erhitzte seinen gesamten Körper, zeigte ihm erst, wie kalt und abgestumpft er sonst immer war. Er hatte gehofft, sie würde ihn trotz seiner Herkunft akzeptieren. Hatte darum gebetet.
Und nun, da er sah, dass sie es wirklich tat, wollte er Gott danken.
Die Stufen ins Obergeschoss knarrten unter dem muffigen Teppichboden, und das Geländer war ungefähr so stabil wie ein Betrunkener auf einem Schiff. Oben angekommen, ging er am Schlafzimmer seiner Eltern und dem Badezimmer vorbei und blieb vor einer geschlossenen Tür stehen.
»Das war mein Zimmer.«
Er machte die Tür auf und knipste das Deckenlicht an. Unter der Dachschräge stand immer noch sein altes Bett mit der marineblauen Überdecke und dem einzelnen Kissen, das so flach war wie eine Brotscheibe. Der Schreibtisch, an dem er - wenn überhaupt - seine Hausaufgaben gemacht hatte, stand wie gehabt unter dem Fenster, die Klemmleuchte zur Decke gerichtet. Sein Zauberwürfel, der schwarze Plastikkamm und die Bademodenausgabe der Sports Illustrated von 1989 mit Kathy Ireland auf dem Cover lagen noch genauso auf der Kommode, wie er sie
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