Fallende Schatten
schon überall Gespenster. Schon eine oberflächliche Ähnlichkeit – mit seinem Anzug, Herrgott noch mal! – genügte, daß ich annahm, es handle sich tatsächlich um diesen Mann. Wenn irgend etwas mit Sicherheit meinen derzeitigen Geisteszustand verriet, dann dieser ungerechtfertigte Angriff auf Jen. So gingen wir normalerweise nicht miteinander um. Wir waren völlig offen zueinander. Jetzt hatte ich ihr auf unerhört selbstherrliche Art den Teppich unter den Füßen weggezogen.
Als ich mich zusammennahm und die Augen wieder aufmachte, war Jen verschwunden und Dieter kam herein. Einigermaßen besorgt betrachtete er mich.
»Meine liebe Nell! Ich komme gerade aus Mailand zurück. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie so bald wieder zur Arbeit kommen würden. Wirklich, das ist doch lächerlich, ich habe Ihnen gesagt, Sie können sich soviel Zeit freinehmen, wie Sie wollen. Ganz blaß sehen Sie aus. Was ist denn passiert?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich hatte immer versucht, Arbeit und Privatleben strikt voneinander zu trennen. Mein Image bei Morgen Morgen war das einer nüchternen, effizienten und kompetenten Frau. Ich wurde nicht krank, ich nahm mir nicht frei. Keine Weibchenallüren. Bis jetzt. Das Bedürfnis, meine Ängste und Halbängste vor dem mitfühlenden Dieter auszuschütten, war schier überwältigend, aber das wäre unklug gewesen. Wir kannten und mochten einander auf beruflicher Ebene. Vielleicht war sein Privatleben genauso chaotisch wie meines, aber irgendwie bezweifelte ich das.
»Seit dem Tod meiner Mutter schlafe ich nicht so besonders gut.« Ich wischte seine Besorgnis beiseite. »Und außerdem habe ich eine leichte Grippe. Das gibt sich wieder.«
Schweigend musterte er mich ein paar Minuten lang, dann setzte er sich auf die Kante meines Schreibtischs.
»Ich bin eigentlich gekommen, um Jen nach Ihrer Telefonnummer in Dublin zu fragen. Es gibt da etwas, das ich gerne mit Ihnen besprechen würde, Nell. Ich habe Sie in frühestens einer Woche zurückerwartet. Hatten wir das nicht so abgesprochen?« fragte er freundlich. In meiner kampfbereiten Stimmung kam er mir distanziert, lässig vor.
Seltsam, wie schwierig es ist, Hilfe oder auch nur Besorgtheit von Freunden zu akzeptieren. Und bei Leuten, mit denen man zusammenarbeitet, fällt einem dies noch schwerer. Ich fragte mich, warum mir die Freundlichkeit zweier relativ fremder Menschen am Tag zuvor weit weniger bedrohlich erschienen war als die Zuneigung und das Mitgefühl, das erst Jen und jetzt Dieter mir entgegenbrachten. Aber es schien keine vernünftige Antwort darauf zu geben. Zumindest fiel mir keine ein.
Ich zuckte die Schultern. »Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
Er hatte die Hand bereits auf der Türklinke. »Das hat Zeit. Ich glaube, Sie müssen jetzt Jen weitermachen lassen und nach Hause gehen, um sich zu erholen. Darauf bestehe ich, Nell. Ich will nicht, daß Sie krank werden.« Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Schauen Sie, ehe Sie gehen, kurz bei mir vorbei. Wir könnten zusammen zu Mittag essen, ich lasse etwas kommen. Dann unterhalten wir uns in aller Ruhe.« Er klang sehr förmlich. Zwar zog er die Tür hinter sich zu, aber er blieb im Gang davor stehen. Ein paar Minuten hörte ich ihn leise mit Jen reden.
Wurde ich jetzt gefeuert? Stocksteif saß ich da, mein Verfolgungswahn nahm immer schlimmere Formen an. Jen streckte den Kopf durch die Tür; sie sah ganz aufgeregt und eindeutig ängstlich aus.
»Mein Gott, Jen, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Ein, zwei Augenblicke zögerte sie, dann legte sie mir den Arm um die Schultern.
»Aber ich. Du bist derartig überreizt, Nell, ehrlich, wenn du nicht langsamer machst, dann …«
»… drehe ich durch. Ich weiß, ich weiß. Nach dem Mittagessen gehe ich heim. Ich nehme mir noch eine Woche oder so frei, wenn du glaubst, du kannst es …« Meine Stimme zitterte.
»Ist ja gut, mein Schatz, ist ja gut«, besänftigte sie mich. Wir hielten einander umklammert, bis wir zu schniefen aufhörten. Dann setzten wir uns an meinen Schreibtisch, wie wir das meistens tun, und gingen den Zeitplan für die kommenden zwei Wochen durch. Ende August ist eine ruhige Zeit für den Frachtverkehr. Mit ein paar Aushilfskräften würde Jen es mit links schaffen, aber sie war rücksichtsvoll genug, mich zu fragen, ob sie mich anrufen und um Rat fragen könne, falls hier die große Panik ausbrechen sollte. Als wir fertig waren, räumte ich meinen
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