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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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hinzufügte: »Ich habe Reynolds gesagt, ich würde ihm die Polizei auf den Hals hetzen.«
    »Ach ja?« O’Keefe bemühte sich, sachlich zu klingen. »Das erzählst du mir besser genauer, mein Sohn. Hast du ihm gedroht?«
    »Nein, Sir, das habe ich nicht fertiggebracht«, murmelte Martin Vavasour. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Ich hatte Angst, Sir. Er hatte eine schreckliche Sprache. Schmutzig und gemein. Ich, hm, habe das nur so gesagt – das von wegen Polizei, Sir –, aber auf dem Revier habe ich mit niemand darüber reden können. Ich hätte mich zu sehr geschämt.« Er biß sich auf die Lippen. »Ich hab ihn nicht angerührt, Sir. Ich wünschte, ich hätte es getan. Aber ich schwöre bei Gott, ich habe ihm nichts getan.«
    Das war vor zwei Stunden gewesen. O’Keefe hatte Mitleid mit ihm bekommen und ihn nach Hause geschickt, um sich auszuruhen. Jetzt richtete der Sergeant den Blick auf seinen Kleinen Schatten und ging auf das Mädchen zu. Dieses Mal blieb sie, wo sie war; sie hatte ihren Arm um das Kind gelegt, das neben ihr auf der Stufe kauerte. Als er näher kam, bemerkte er, sie war älter, als er angenommen hatte; unter dem formlosen Hemdkleidchen war sie gut entwickelt. Sie hatte ein stilles, koboldhaftes Gesichtchen mit leicht schrägstehenden tiefblauen Augen. Ein blauer Fleck auf der einen Seite ihres Gesichts ließ die Blässe der weißen Haut noch stärker hervortreten. Auf beiden Wangen hatte sie hellrote Flecken, fast als hätte sie Rouge aufgelegt, aber als er genauer hinsah, merkte er, die Haut war rauh und wund.
    O’Keefe stand da und betrachtete sie schweigend, aber sie rührte sich nicht, blinzelte nicht einmal. Richtig ernährt und gewaschen wäre sie ein Bild von einem Mädchen. Wußte sie das? Schützte sie sich selber mit diesem kindlichen Aussehen? fragte er sich. Mit den schäbigen, sackartigen Kleidern? Eine kleine Mutter? dachte er, verwarf den Gedanken jedoch sofort. Laut dem Klatsch war sie das nicht; das Kind gehörte zu der betrunkenen Mutter. Wer der Vater war, wußte – oder sagte – niemand. Er schätzte, das Mädchen benutzte die ständige Anwesenheit des Kindes als Schutz, als eine Art Schild. Sergeant O’Keefe schauderte bei der Vorstellung von Buller Reynolds irgendwo in ihrer Nähe. Und wenn das, was der junge Vavasour über die Mutter gesagt hatte, stimmte, dann hatte sie auch allen Grund, sich zu schützen. Es schien allgemein bekannt zu sein, daß Nan Sweetman seit ein paar Jahren Reynolds Hure gewesen war.
    »Weißt du, welche Wohnung die von Mr. Vavasour ist?«
    Sie sah ihn an, antwortete jedoch nicht. Das Kind wandte sein kleines Mondgesicht eines alten Mannes dem Sergeant zu. Die runden, fahlen mongoloiden Augen füllten sich mit Tränen; es vergrub sein Gesicht im Schoß des Mädchens und begann zu schreien. Für so ein schwächliches kleines Wesen hatte es eine kräftige Lunge.
    »Ist mit dem Kind alles in Ordnung?« fragte O’Keefe jetzt etwas sanfter.
    »Jimmy. Er heißt Jimmy, er ist mein kleiner Bruder«, erklärte sie heftig. Sie hatte einen breiten Dubliner Akzent. »Was glauben denn Sie, daß mit ihm nicht stimmt?«
    »Ich, hm …«, setzte O’Keefe an.
    Lily Sweetman sah ihn herausfordernd an. Sie hob das Kind auf den Schoß und beruhigte es zärtlich. Seine unterentwickelten Gliedmaßen waren schlaff; ein Bein schien unter ihm nach hinten gekrümmt zu sein.
    Lily sah ohne die geringste Spur von Selbstmitleid zu O’Keefe auf.
    »Hören Sie, Mister, er ist ein bißchen ein Spätentwickler, das ist alles. Den ganzen Winter über war er schrecklich erkältet. Aber jetzt geht es ihm großartig. Er fällt niemandem zur Last.«
    »Schon gut, Kind, ich wollte damit nichts weiter sagen. Ist ein großartiger kleiner Bursche. Und jetzt hör mir mal gut zu. Der junge Polizist, der gestern Nacht bei mir war, weißt du, wo der wohnt?« fragte O’Keefe.
    »Martin? Doch, den kenne ich.« Er wartete, aber sie starrte weiterhin zu ihm hinauf, als wolle sie sagen: »Was ist das wert?«
    Das Spiel beherrschte er auch. Er wartete ebenfalls.
    »Meine Ma war gestern Abend nicht betrunken«, sagte sie unvermittelt. »Nur traurig. Sie kümmert sich um uns …«
    Das war es also. Sie hatte Angst, er könnte die Mutter verhaften – mit welcher Begründung? – Herumtreiberei, vermutete er. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich enttäuscht. Als hätte sein kostbares Orakel, als es den Mund aufmachte, nur Unsinn dahergeplappert.
    »Das sag ich Ihnen, Mister, sie

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