Fallende Schatten
Gesicht war grünlich weiß, und auf jeder Wange prangte ein roter Fleck. Trotzdem brachte er ein Lächeln zustande. Martin schafft es immer zu lächeln, selbst wenn es ganz schlimm kommt, dachte Lily voller Dankbarkeit. Rose hatte ihr erzählt, wie ihn die Sache mit Reynolds mitgenommen hatte. Und daß er zu ihr gesagt hatte, sie müsse zu ihrer Mutter, außer Reichweite. Lily vermißte sie. Martin und Rose und der kleine Sean. Lilys Vorstellung von einer richtigen Familie. Weder sie noch Martin bemerkten, daß O’Keefe herübergeschlendert war und jetzt dicht neben ihnen stand.
»Sie läßt uns nicht ins Bett«, wisperte sie und strich die Haare von dem blauen Fleck auf ihrem Gesicht weg. Dann legte sie die Hand auf die bebenden Lippen und sah mit Tränen in den Augen zu ihm auf.
»Er hat mich gezwungen, ihnen zuzusehen. Zuerst hat er mich geschlagen, dann hab ich zuschauen müssen. Und dann hat er meine Ma fürchterlich verdroschen.« Vor Abscheu wurde ihre Stimme ganz leise.
»O Jesus, Maria und Joseph. O Lily, Lily.« Martins Stimme versagte. »Er hat doch nicht etwa«, er schluckte, »er hat doch nicht etwa dich angerührt, Lily?«
Sie schreckte zurück, zuckte die Schultern, und eine groteske Grimasse verzerrte ihr Gesicht. Diesen einen flüchtigen Augenblick lang sah sie wie eine traurige und müde alte Frau aus.
»Nein, nein, nein«, brach es aus ihr hervor. »Eher hätte ich ihn umgebracht. O Gott. O mein Gott, Martin, ich habe es nicht …«
»Sscht, sscht, Lily, Schätzchen. Natürlich hast du ihn nicht …«
»Sie läßt mich nicht mehr rein«, fiel Lily ihm mit vor Gekränktheit geweiteten Augen ins Wort. »Will mich nicht in ihrer Nähe haben. Es wird immer schlimmer. Rose hab ich es erzählt. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Unbeholfen legte Martin den Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich heran. Sie schmiegte sich an ihn und schloß die Augen.
Also nicht nur der kleine Vavasour. Auch Lily Sweetman hätte allen Grund gehabt, Buller Reynolds zu töten, dachte O’Keefe grimmig. Seine Augen hefteten sich auf die beiden Häuser, die der Stelle, an der Buller ermordet worden war, am nächsten standen. Hatte irgend jemand es getan, um sie zu schützen? Sie sah so jung aus und doch so erschöpft; so unschuldig und doch so wissend; als hätte sie das Schlimmste, was das Leben ihr antun konnte, schon erfahren.
Ihm kam die Galle hoch, und er mußte ein Stück zur Seite gehen, um nicht seinen Zorn darüber herauszubrüllen, daß nicht eines dieser klatschsüchtigen Weiber Reynolds’ fiese Tricks angeprangert oder auch nur erwähnt hatte. Sie hatten dem Ganzen den Rücken zugekehrt, so wie er selber sich jetzt umdrehte, um nicht mit hineingezogen zu werden. Hatten die etwa geglaubt, dachte er erbost, hatten die etwa geglaubt, sie könnten das Ganze aus der Welt schaffen, müßten ihm nicht ins Gesicht sehen, wenn sie nicht davon sprachen? Oder hatten sie Angst gehabt, wenn es nicht Nan Sweetman gewesen wäre, die er ausnützte, dann wäre eine von ihnen ihm ausgeliefert gewesen? Da war es doch viel einfacher, einen Bogen um die arme betrunkene Nan Sweetman zu machen und alles auf ihre Lasterhaftigkeit zu schieben.
Aber irgend jemandem hatte das etwas ausgemacht. Wenn nicht wegen der Sweetmans, dann wegen irgend etwas oder irgend jemand anderem. Sie hatten ihn in der einzigen Nacht des Jahres, vielleicht des Jahrhunderts erschossen, in der Aussicht bestanden hatte, daß sie ungeschoren davonkamen. Sie hatten seine abstoßenden Gewohnheiten und seinen Zeitplan gekannt. Hatten gewußt, daß er nach dem Eintreiben der Miete bei der unglückseligen Nan Sweetman auftauchen würde, um seine Lust zu befriedigen oder sich an ihr und ihrem Kind zu rächen. Die Nachbarn mußten gewußt haben, was da vorging. Doch nicht einer von ihnen, außer Martin, hatte auch nur die Hand gehoben, um Lily und ihrem Bruder zu helfen. Nur die Mörder, die natürlich schon. Zu seiner Beschämung verspürte O’Keefe eine ungeheure Befriedigung über diesen Akt des Erbarmens in sich aufsteigen. Vergebens versuchte er, sie zu unterdrücken. Die Welt mochte ja besser dran sein, wenn Leute wie dieser Reynolds daraus verschwanden, aber seine Aufgabe war es, herauszufinden, wer es getan hatte.
Er schaute sich um. Martin hatte immer noch den Arm um Lilys Schulter gelegt; sie beruhigte das weinende Kind. Zerbrechlich sah sie aus und ungeheuer verloren, und doch war er sicher, sie wußte mehr, als sie zugab. Er würde
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