Fallende Schatten
sie ihn herauszog, die restlichen Blätter verlor und den Blick auf den Boden darunter freigab. Und da lag, matt im morgendlichen Sonnenschein schimmernd, eine leere Patronenhülse.
Lange starrte O’Keefe sie an und nickte dabei bedächtig. Als er aufblickte, rannte das Mädchen schon nach Hause, und ihren Platz hatte der junge Gardaí-Neuling Martin Vavasour eingenommen, der auf ihn heruntergrinste. Einen fürchterlichen Augenblick lang sah O’Keefe so etwas wie Triumph in diesem unschuldigen, jungenhaften Lächeln.
All das bestärkte ihn in seinem Entschluß, ein wachsames Auge auf die kleine Lily Sweetman zu haben. Sie wußte sehr viel mehr, als sie verriet, und er war entschlossen, sie auszutricksen, sie zum Reden zu bringen. Armer Sergeant O’Keefe. Genauso gut hätte er versuchen können, ein Irrlicht einzufangen.
An jenem Tag, dem einunddreißigsten Mai, wurde in den Zeitungen der Tod von Reynolds nicht erwähnt. Und auch an den folgenden Tagen nicht, bis gegen Ende der darauffolgenden Woche, am fünften oder sechsten Juni, eine kleine Notiz erschien. Bis dahin waren die Zeitungen voll von Berichten über die Bombardierung des North Strand, über die Schlacht, die auf Kreta tobte, und über die Luftangriffe der Alliierten auf Deutschland. Seltsamerweise verhinderte die Tragödie nicht, daß das für den gleichen Nachmittag im Phoenix-Park angesetzte Pferderennen stattfand, wie die Photos lachender Wetter in der Zeitung am darauffolgenden Montag bewiesen. Vielleicht hatte unter der Einwirkung des Schocks einfach niemand daran gedacht, es abzusagen.
Auch das Leben in der Stadt ging seinen gewohnten Gang. Das Gaiety Theatre spielte You Can’t Take It With You, im Peacock stand Any Time For Love auf dem Programm, und im Gate trat – vielleicht etwas angemessener – Anew McMaster in Macbeth auf. Im Kapitol-Kino spielte Judy Garland die Hauptrolle in Andy Hardy Meets Debutante, zusammen mit Mickey Rooney, und gleichzeitig in dem (von ihr selber verfaßten?) Little Nellie Kelly. Im Savoy waren Don Ameche und Betty Grable die Stars in Down Argentine Way.
Als die Polizisten am Samstag mit ihrer endlosen Fragerei endlich fertig waren, war es fast sieben Uhr. Kaum waren sie weg, stürmte Maisie Reynolds die Treppe hinauf. Endlich frei von den ihr von ihrem herrischen, nicht betrauerten Ehemann auferlegten Einschränkungen, füllte sie einen großzügigen Schuß Medizin gegen Blähungen sowie etwas Gin in die Flasche ihres Babys, packte es in sein Bettchen und nahm die Straßenbahn zum Savoy.
Don Ameche war einer ihrer Lieblingsschauspieler, und sie konnte einfach nicht widerstehen.
9
Eine Überprüfung des Opfers lieferte der Polizei eine umfangreiche Liste möglicher Verdächtiger. Jedes Mal wenn der arme Sergeant O’Keefe einen Stein umdrehte, kam ein neues schurkisches Geheimnis über Reynolds zum Vorschein. Die Schwierigkeit war, einen eindeutig Verdächtigen gab.?.›nicht, und schon gar nicht einen, dem man den Mord hätte nachweisen können. Daß Myles McDonagh – o ja, der gute Sergeant hatte ihn am Samstag und am Sonntag lange und eingehend verhört – und Lily Sweetman jemanden deckten, dessen war er sich sicher. Aber nicht den Mörder. Fest und beharrlich glaubte er, sie hätten keine Ahnung, wer der Täter war. Und aus Gründen, die er selber am besten kannte, hielt er unbeirrbar an seiner Überzeugung fest.
In einer eng zusammengehörigen, mit sich selber beschäftigten Gemeinschaft bleibt ein Skandal lange im Gedächtnis haften. Zu viele Leben waren ruiniert worden, zu viele unschuldige Opfer hatten gehofft, der Tod würde Reynolds abstoßendem Leben ein Ende setzen. Hatten vielleicht gehofft, man würde ihn und damit auch ihre Schande vergessen. Man empfand die Ermordung weniger als Gewalttat, denn als göttliche Gerechtigkeit. Nach Buller Reynolds’ Tod stellten seine Mieter eine Solidarität unter Beweis, die sie während seiner Schreckensherrschaft nicht an den Tag gelegt hatten. Keiner sagte auch nur ein Wort. Abgesehen von Dolly Brennan – und die war schlimmer als nutzlos – wollte niemand mehr etwas mit ihm oder seinem Tod zu tun haben. Sie wußten, wenn sie sich ruhig verhielten, würde das Ganze sich verziehen, wie seine glücklose Familie. Und tief in seinem Inneren teilte der hin und her gerissene Sean O’Keefe diese Meinung.
Die Liste möglicher Verdächtiger wurde immer länger. Wann auch immer irgend jemand seine Beziehungen zu dem Ermordeten beschrieb, förderte
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