Fallende Schatten
darauffolgenden Wochen trottete sie jeden Tag in diese Richtung oder zum Buchladen, aber nicht ein einziges Mal lief sie ihm über den Weg. Die Tür zum Laden des alten Mr. Handl aufzumachen und nach Milo zu fragen, dazu war sie zu schüchtern. Allmählich glaubte sie schon, sie hätte ihn sich eingebildet oder er sei ihr Schutzengel, der vom Himmel heruntergestiegen war, als er eines Samstags auf sie zu schlenderte, während sie draußen auf der Schwelle saß und auf Jimmy aufpaßte. Er schob einen kleinen Wagen vor sich her, dessen Griff aus einem alten Spazierstock gemacht war. Der Kasten war aus Holz; den Boden bedeckte ein kleines Stück von einem Teppich, und die oberen Ecken waren mit wunderschönem rotem Leder gepolstert.
»Wozu ist denn das?« fragte sie.
»Der ist für Jimmy«, erklärte er. »Er ist zu groß, um ständig rumgeschleppt zu werden.« Und damit hob er Jimmy in den Wagen. Der kreischte zunächst vor Angst, als Lily jedoch den kleinen Wagen vor und zurück schob, war er hellauf begeistert.
Milo setzte sich auf die Schwelle und sah ihr lächelnd zu.
»Und wie geht es dir so, Lily?« fragte er, als sei er nur eine Minute weg gewesen. »Ein wunderschöner Tag. Ich habe mich gefragt, ob du nicht Lust hättest, ihn zum Strand in Sandymount mitzunehmen, um ein bißchen herumzuplanschen. Die Seeluft würde ihm guttun. Und dir auch.« Er grinste. »Ich kenne eine prima Stelle, wo es eine Menge kleiner Tümpel gibt, gerade richtig für ihn. Es ist nicht allzu weit, und es wird dir gefallen.«
»In deinem Wagen?«
»Das ist nicht mein Wagen. Der ist für Jimmy. Ich habe ihn für ihn gemacht. Nichts weiter Großartiges, nur eine alte Obstkiste mit ein paar Rädern, die ich hinten im Laden gefunden habe. Mr. Handl hatte mir die Lederstückchen für die Ecken gegeben.«
»Der ist einfach herrlich.« Lily konnte kaum atmen vor Freude. »Ich mag rot. Jimmy auch. Schau ihn dir nur an, wie er mit seinen kleinen Händchen alles betatscht. Er mag das Wägelchen, wirklich.«
»Für dich habe ich auch etwas, uns ist ein Stück Leder übrig geblieben«, fuhr Milo verlegen fort. Er zog einen kleinen roten Geldbeutel zum Zuschnüren hervor. »Alles Gute zum Geburtstag, Lily.« Er lächelte. Sie hatte schon die Hand ausgestreckt, um das Geschenk zu nehmen, doch jetzt zog sie sie wieder zurück.
»Heut ist nicht mein Geburtstag«, erklärte sie traurig. »Ich hab im Januar Geburtstag.«
»An welchem Tag im Januar?«
»Am neunzehnten. Dann werd ich fünfzehn«, fügte sie stolz hinzu.
»Na schön. Heute haben wir den fünfundzwanzigsten Juli. Also alles Gute zum halben Geburtstag, Lily.« Er lachte und drückte ihr den Geldbeutel in die Hand.
Liebevoll strich sie mit den Fingerspitzen darüber und preßte es an ihr Gesicht. Ihre Wangen glühten purpurrot. »Das ist wunderschön. Ich werde es immer und ewig behalten«, flüsterte sie.
»Wie alt bist du, Milo?« Sie sprach seinen Namen gerne aus.
»Ich bin heute siebzehn geworden«, lachte er. »Ehrlich.«
»Du hast mir etwas zu deinem Geburtstag geschenkt? Oh. Was soll ich dir geben? Ich habe nichts.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Enttäuschung, dann, genauso plötzlich, strahlte sie ihn an. Sie streckte ihm den Beutel hin.
»Das ist ein großartiges Geschenk, Milo. Aber wenn meine Mammy ihn sieht, nimmt sie ihn sich. Könntest du ihn für mich aufheben? Es ist das Schönste, was ich je gehabt habe. Ich hätte gerne, daß du ihn hernimmst. Als Geburtstagsgeschenk von mir«, fügte sie ernsthaft hinzu. »Ich könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren.«
Nach kurzem Zögern steckte Milo ihn in seine Hosentasche zurück. »Willst du das wirklich? Ganz bestimmt?«
»Ganz wirklich und ehrlich, Hand aufs Herz.«
»In Ordnung. Danke, Lily, ein prima Geschenk.« Er lachte. »Und was ist jetzt mit unserem Ausflug zum Meer?«
Es war leicht, Jimmy dahin zu schieben. Viel besser, als ihn überall hinzuschleppen. Still wie ein Mäuschen saß er in dem kleinen Karren, und sein lächelndes Gesichtchen spitzte über den oberen Rand.
Während sie so dahingingen, erzählte Milo ihr alles über seine Arbeit. Er sagte, nur mehr ein Jahr habe er, bis er mit seiner Lehrzeit fertig wäre. Er hatte als Drucker angefangen und machte auch weiterhin ein wenig in der Art, aber jetzt war es ihm lieber, Bücher zu binden. Als sie ihn fragte, was das sei, erklärte er ihr, das bedeute, Buchdeckel aus wunderschönem weichen Leder anzufertigen und dieses manchmal zu verzieren,
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