Fallende Schatten
mit echtem Gold. Und alte Bücher wieder herzurichten, das mache ihm auch Spaß.
»Manchmal gefällt mir das sogar besser. Das Papier ist so schön, und der alte Druck.« Nachdem er dies gesagt hatte, geriet er ein wenig ins Träumen. Lily verstand nicht, was er meinte. Für sie waren Bücher Geschichten, nicht irgendwelche Dinge, aber sie sagte nichts.
Danach sah sie ihn oft; sie achtete darauf, immer um die Zeit vor Heaneys Laden zu sitzen, wenn er zu arbeiten aufhörte. Aber nur ein- oder zweimal in der Woche, denn sie wollte ihm nicht auf die Nerven fallen. Einmal ließ er sie mit hereinkommen und zeigte ihr die Buchbinderei hinten im Laden und die Bücher, die er machte. Noch nie hatte Lily etwas so Schönes gesehen. Mr. Handl arbeitete an einer ratternden alten Maschine. Er erklärte ihr, das sei eine Presse, und zeigte ihr die Seiten, die er gerade druckte. Aus der Nähe wirkte er gar nicht so Furcht einflößend, mit seinem lustigen Akzent und den kleinen braunen Knopfaugen. Er sagte zu allen »Schätzchen«. Sogar zu den Kunden.
Mr. Handl erzählte ihr auch, die Druckerei weiter unten in der Straße mit dem Buchladen, die Mr. Reynolds gehörte, sei einst im Besitz von Milos Familie gewesen. Irgendwie war sie ihnen, auf eine Weise, die sie nicht so recht verstand, weggenommen worden, als sein Vater gestorben war. Milo war gerade vorne im Laden, und als er ihn zurückkommen hörte, legte Mr. Handl den Finger auf die Lippen und erklärte, Milo wolle nicht darüber reden. Sie verriet nie, daß sie etwas davon wußte.
Es dauerte nicht lange, bis Lily merkte, daß Milo fast genau solche Angst vor Buller hatte wie sie. Sie erzählte ihm nichts davon, was Buller ihrer Ma antat, aber er schien es ohnehin zu wissen. Er sagte, sie solle sich in möglichst sicherer Entfernung von Buller halten, er sei ein schrecklicher, ein böser Mensch, der eine Menge Schaden anrichte. Als er erklärte, auch er habe Angst vor Buller, erzählte sie ihm nicht, daß sie wußte, warum. Aber in der darauffolgenden Zeit achtete Lily darauf, nicht zusammen mit Milo gesehen zu werden, für den Fall, jemand käme auf die Idee, es Buller zu berichten. Deshalb ließ sie ihn nie auch nur in die Nähe des Hauses kommen, in dem sie wohnte.
Unglücklicherweise hatte sich jedoch an dem Tag, an dem sie zusammen an den Strand gegangen waren, Dolly Brennan wie üblich aus dem Fenster gelehnt. Das sollte Lily nie vergessen.
Als sie vorbeigingen, rief Mrs. Brennan zu ihrer Freundin, Mrs. Doyle, hinüber: »Sieh dir das nur an, wie das junge Ding mit dem alten Wägelchen rumstolziert. Merken Sie sich, was ich sage, Mrs. Doyle, die ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ich seh das schon kommen. Schlechtes Blut.«
Die beiden lachten, Lily wurde knallrot, aber sie brachte kein Wort heraus, so verletzt war sie. Als sie um die Kurve bogen, nahm Milo sie sanft bei der Hand und flüsterte: »Bleib immer ganz für dich, Lily, und mach dir nichts aus den alten Hühnern da. Das sind zwei Unruhestifterinnen. Die sollten sich schämen.«
Nie, niemals könnte sie etwas tun, das Milo auch nur im geringsten in Gefahr brachte. Sie wünschte, sie könnte sich deutlicher daran erinnern, was mit Buller passiert war. Er hatte tot dagelegen, noch ehe ihr klar geworden war, die Gestalt auf der anderen Straßenseite war Milo. Aber eines wußte sie mit Sicherheit. Egal, was Milo möglicherweise getan oder wem er vielleicht geholfen hatte, sie würde keiner Menschenseele verraten, daß er dort gewesen war. Niemals. Dolly Brennan konnte quasseln, bis sie schwarz wurde.
Ganz früh am Montagmorgen nach dem Mord schlich Lily Sweetman zu der Straße, in der Milo wohnte. Sie mußte Jimmy schlafend neben ihrer Ma zurücklassen, obwohl sie sich Sorgen machte, er könnte aufwachen und schreien. Ma haßte es, wenn er schrie. Lily machte sich schon vor sieben auf den Weg, weil sie ihm auf seinem Weg zur Arbeit sein Werkzeug geben wollte. Sie hatte ganz vergessen, daß Pfingstmontag war.
Fast eine Stunde wartete sie und machte sich schon Sorgen, er würde zu spät kommen. Dann tauchte eine ganze Schar auf Fahrrädern auf und blieb vor seinem Haus stehen. Viele von ihnen hatten Rucksäcke auf dem Buckel. Sie versteckte sich in einem Hauseingang ein Stück die Straße hinunter und spähte vorsichtig hervor, konnte ihn jedoch nicht sehen.
Irgend jemand brüllte: »Milo, verdammt noch mal! Leg einen Zahn zu, oder wir kommen nie da hin, wo wir hinwollen.«
Sie schloß daraus,
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