Fallende Schatten
ärgerte O’Keefe, daß sowohl seine Schwester wie auch seine Mutter keine Ahnung zu haben schienen, warum er verschwunden war. Erst einige Wochen später rückte seine Mutter, unter dem üblichen Tribut an Händeringen und Tränen, mit der Nachricht heraus, ihr lieber Sohn sei nach Belfast und habe sich bei der Marine als Freiwilliger gemeldet.
»Er wird bestimmt getötet, Sergeant O’Keefe. Sie haben ihn mit ihrer Fragerei verjagt. Einen gutmütigeren Jungen hat es nie gegeben. Was soll ich denn jetzt machen, ohne ihn? Wer wird sich um uns kümmern, jetzt, wo er weg ist?« Sie hielt ihr verzerrtes Gesicht dicht vor seines. »Der Junge würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er wird kaputt gemacht, getötet werden.« Ihre Stimme schwoll schrill an. »Ist er nicht gerade erst weg und hat sich für die Dauer des Krieges verpflichtet? Und Gott allein weiß, wie lange der dauern wird. Oh, oh, oh«, stöhnte sie. »Ich werde ihn nie wiedersehen.«
Und das war’s dann, zumindest für den Augenblick. Myles, der einige der Tatsachen gekannt hatte, war verschwunden. Lily wußte andere, aber die wollte den Mund nicht aufmachen. Hätten die beiden die ineinandergreifenden Teile des Puzzles zusammengefügt, dann hätten sie in allen Einzelheiten gewußt, was geschehen war. Zu dem Zeitpunkt war keiner von ihnen alt oder erfahren genug, um die Motive für dieses schreckliche Verbrechen voll und ganz zu verstehen. Und da sie dazu nicht in der Lage waren, verfolgten seine Nachwirkungen sie für den Rest ihres Lebens.
10
In den Wochen nach dem Tod ihres Ehemannes wurde Maisie, der Witwe Wilfrid Reynolds’, klar, die Polizei mochte zwar den Anschein erwecken weiterzukommen, mochte es so hinstellen, als »seien sie intensiv mit Ermittlungen in einer bestimmten vielversprechenden Richtung befaßt« und würden in Kürze jemanden für das Verbrechen »in Gewahrsam nehmen«, aber sie glaubte kein Wort davon. Sie wünschte, die hätten normales Englisch gesprochen und aufgehört, zu versuchen, sie mit all den umständlichen Wörtern zu verwirren.
Die waren alle so, diese Iren. Quasselten ununterbrochen, ohne damit etwas zu sagen. Sie haßte den schwerfälligen, gutturalen Dubliner Akzent, der unmöglich zu verstehen war. Ihrer Meinung nach noch schlimmer als der von Liverpool, und das wollte etwas heißen. Und sie sahen einem nie in die Augen. Das war das schlimmste. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie der gleichen Meinung wie ihr verblichener Ehemann. Wie er war auch sie sicher, die Iren seien ein Haufen von Lügnern und Betrügern, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, und dabei stellten sie sich auch noch dumm an. Dumm, aber unwiderstehlich. Ihnen gegenüber hatte sie keine Chance. Das ganze freundliche Gerede und die übertriebene Höflichkeit. Und was noch schlimmer war, sie lachten sich dabei, dessen war sie sicher, halb kaputt über sie.
Fast hatte sie recht damit. Die Wahrheit sah so aus, daß die Geilheit des Opfers das Ganze reichlich peinlich machte. Daß er der Besitzer der Häuser gewesen war, hatte die Beleidigung noch unerträglicher gemacht. Seine Mieter, vor allem die Frauen, hatten vielleicht ihren unglückseligen Schwestern nicht geholfen, aber sie hatten sich alles gemerkt. Jedes gewalttätige Verhalten und jegliche sexuelle Belästigung waren genauestens verbucht worden. Die Erinnerung daran, unterdrückt und gedemütigt worden zu sein, hält sich lange und ist bitter. Buller Reynolds hatte die meisten von jenen in der Hand gehabt, die, wie der junge Martin Vavasour, unter anderen Umständen alles daran hätten setzen sollen und dies auch getan hätten, um seinen Mörder zu finden. Doch so ließen sie die Sache schleifen. Sie zahlten die Miete nicht mehr, und die verschüchterte Witwe von Reynolds hatte viel zu viel Angst, um sie von ihnen zu fordern.
Maisie Reynolds saß zu Hause in Sandymount, zu verängstigt, um auszugehen. Sie hatte die Iren immer für Ausländer gehalten, jetzt kam sie sich selber wie eine Fremde vor. Weder kannte sie ihre Nachbarn, noch traute sie ihnen. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Mann gegen deren »feige Neutralität« gewettert hatte.
»Männer sollten sich wie Männer verhalten und für König und Vaterland kämpfen.« Wie er, der während des Großen Krieges »in vorderster Front dabei gewesen war«. Maisie würde nie darüber hinwegkommen, was an jenem Tag geschehen war, als der Krieg erklärt wurde. Er hatte einen Haufen Orden hervorgekramt – es waren nicht einmal
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