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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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eigentlich, außer daß sein eines Auge leicht schielte, was den unglückseligen Effekt hatte, daß es ihm unmöglich war, einem direkt ins Gesicht zu sehen, und ihm ein ziemlich verschlagenes, hinterhältiges Aussehen verlieh. Er war konservativ gekleidet: einreihiger marineblauer Anzug und weißes Hemd; den gediegenen Eindruck verdarb allerdings eine schlaff herabhängende rote Fliege, die viel zu theatralisch für ihn wirkte. Fast sah er wie ein kleiner Junge in Erwachsenenkleidern aus. Er hatte grau meliertes Haar, aber über den fast kahlen Vorderschädel war eine reichlich merkwürdige, viel dunklere Locke geklebt. Die Brille mit Metallfassung ließ ihn wie einen Apparatschik aus dem Politbüro aussehen. Ich war überaus erleichtert, daß er keinen Regenmantel trug.
    »Wir sind nicht verwandt, oder?« erkundigte ich mich eher aus Höflichkeit als aus sonst einem Grund. Schließlich und endlich war er bei der Beerdigung gewesen, aber ich glaube nicht, daß ich ihn gerne als Verwandten gehabt hätte.
    »Soviel Glück habe ich leider nicht.« Er lächelte unsicher, verwirrt.
    »Das habe ich vermutet. Ich konnte Sie nirgends einordnen.« Ich zuckte die Schultern. »Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«
    »Reynolds«, flüsterte er heiser und blickte verstohlen um sich, als hätte er Angst, belauscht zu werden. Ziemlich beunruhigend war das. »Arthur Reynolds. Hat Ihre Mutter erwähnt, daß ich Verbindung zu ihr aufgenommen hatte?«
    »Neeiiin.« Ich schüttelte den Kopf. »Hätte sie das tun sollen?«
    »Hätte ja sein können. Vor ein paar Wochen habe ich sie besucht. Sie hat meinen Vater gekannt. Vor langer Zeit, in Ringsend. Wilfrid Reynolds.« Er lehnte sich zurück, als erwarte er von mir einen Kommentar zu dieser Enthüllung, aber da mir nichts einfiel, wartete ich einfach ab, daß er weitersprach.
    »Ich bin nicht aus Dublin«, erklärte er. Aus seinem Mund klang das, als sei es ein Verdienst.
    »Das tut mir aber leid.« Ich hatte das ironisch gemeint, er nahm es jedoch völlig ernst. Ich wußte nicht so recht, sollte ich lachen oder weinen.
    »O nein. Ich weiß, ich bin hier zur Welt gekommen, aber das zählt nicht. Mutter hat mich nach Sussex zurückgebracht, als ich vier war. Ihr hat es hier nie gefallen.«
    Eins mit Stern für Taktgefühl, Arthur, dachte ich.
    »Ihre Eltern waren Engländer?« Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich verpflichtet, diese groteske Unterhaltung fortzuführen.
    »Ja, aus Brighton. Zumindest Vater stammte aus Brighton, Mutter wurde in Hove geboren. Letztes Jahr ist sie gestorben; sie war sehr alt, über neunzig.« Er war nahe daran draufloszuschwafeln, wie Leute, die alleine leben, dies gerne tun, sobald man ihnen eine Gelegenheit dazu gibt, aber ich fiel ihm hastig ins Wort.
    »Sie haben sich um sie gekümmert?« Das bedeutet, er ist einsam, dachte ich. Hat die alten Freunde seiner Mam aufgesucht. Um ein bißchen zu plaudern. Und Lily wäre genau die Richtige gewesen, ihn zum Reden zu bringen. Aus irgendeinem Grund sah ich jedoch ein Bild vor mir, wie Lily die Flucht ergriff, sobald er in die Nähe kam. Sie war zwar freundlich gewesen, aber um die wirklich Sonderbaren hatte sie immer einen großen Bogen gemacht. Zeit zu gehen, Nell, dachte ich.
    »Ja. Sie hatte eine Pension in Brighton, als ich noch klein war. Als die neue Universität eröffnet wurde, hat sie sie in ein Studentenheim umgewandelt. Ich habe fürs Sozialamt gearbeitet, das heißt, bis sie gestorben ist. War sehr deprimierend, alle diese Faulenzer, die für nichts etwas haben wollten. Ich habe mich frühpensionieren lassen. Und jetzt habe ich jede Menge Zeit, also habe ich versucht, hier in Irland Leute aufzustöbern, die sie gekannt haben.« Er sprach es wie »Eiland« aus, was mich immer ärgert. »Und meinen Vater. So ein bißchen etwas wie ein Hobby, wenn man es genau nimmt. Bis vor einem halben Jahr bin ich nie hier herübergekommen; seitdem war ich viermal da. Ist das nicht merkwürdig?«
    »In der Tat.« Arme Lily, ich wette, sie hat ihn den Langweiler aus Brighton genannt. Ungeheuer nervös war er, sah ständig über die Schulter. Und mir wurde immer unbehaglicher zumute. Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte oder was das mit meiner Mutter oder mir zu tun hatte. Außerdem wurde es allmählich Zeit; ich mußte noch etliche Anrufe erledigen und wollte meinen Flug nicht verpassen.
    »Ich versuche, etwas darüber herauszufinden, wie mein Vater in Irland gelebt hat.«
    »Tut mir leid, über Ihren Vater

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