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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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gekannt?«
    Er lächelte bedauernd. »Nicht gut genug. Eigentlich habe ich sie zum ersten Mal getroffen, als mein Onkel gestorben ist; das war vor einigen Jahren. Sie waren gute Freunde. Ich habe sie besucht und, na ja«, er zuckte die Schultern, »dann hab ich öfter mal bei ihr vorbeigeschaut. Es war wundervoll, sich mit ihr zu unterhalten, nicht wahr? So richtig schön altmodisch – ich meine, was für interessante Geschichten sie wußte«, fügte er hastig hinzu.
    »Ja.« Ich unterdrückte ein Lächeln. Für die Bemerkung von wegen »altmodisch »hätte Lily ihm eine Ohrfeige versetzt. Sie war in keiner Hinsicht alt gewesen und hätte sich für die Anspielung auf ihr Alter kaum bei ihm bedankt. Ich tat es auch nicht. Mir war nicht nach einer Auseinandersetzung zumute.
    »Das mit dem Unfall tut mir leid. Schreckliche Sache. Muß ein fürchterlicher Schock gewesen sein.«Schock? Fast hätte ich laut losgebrüllt. Schock? Nennt man das so? Ich hätte mir eine anschaulichere Beschreibung vorstellen können. Zum Beispiel Gemetzel. Zum Beispiel hirnlose, unfaßbare Gewalttätigkeit.
    Irgend so ein Idiot hatte meine Mutter überfahren und einfach da liegen lassen, allein, sterbend, auf einer menschenleeren Straße. Sie war eine lebhafte, muntere, interessierte und aufgeschlossene Neunundsechzigjährige gewesen. Das hätte nicht passieren dürfen, das sagten alle. Sie hatte ausgezeichnet gehört und gesehen und eine deutlich sichtbare Zielscheibe dargestellt – nicht zu übersehen, würde ich sagen. Klein war sie zwar gewesen, aber so dünn nun auch wieder nicht. Außerdem hatte sie sich ziemlich auffallend gekleidet. Helle, leuchtende Farben. Wie hätte er, sie, wer auch immer, sie übersehen können? Daß es am hellichten Tag passiert war, auf einer gottverlassenen Straße, machte das Ganze noch schlimmer. Über eine Stunde war die arme Lily da gelegen, wo sie hingefallen war, so die Auskunft der Polizei, ehe das Jaulen ihres kleinen, verschreckten Hundes die Aufmerksamkeit des Bewohners des einzigen Hauses im Umkreis von hundert Metern auf sich gelenkt hatte. Aber genau die Stunde war ausschlaggebend gewesen. Jegliche Hilfe war zu spät gekommen.
    Sie war in Ringsend getötet worden. Auf einer heruntergekommenen, verlassenen Straße neben der Eisenbahnlinie. Was sie dort gewollt hatte, wußte kein Mensch. Und warum sie mit dem Fahrrad gefahren war und nicht mit dem Auto, war mir schleierhaft.
    »Tut mir leid, ich habe Sie traurig gemacht«, unterbrach Hanions Entschuldigung mich in meinen Gedanken.
    »Nein«, erwiderte ich kurz angebunden. Es beunruhigte mich, daß sein Name mir nichts sagte. Lily hatte ihn nie erwähnt, dessen war ich mir sicher. Ich wurde aus ihm nicht schlau. Er schien einigermaßen nett zu sein, aber ehrlich gesagt, das war die außergewöhnlichste Anmache – wenn es das war. Obwohl ich ihm seinen Einfallsreichtum gutschrieb, war mir in seiner Gegenwart unbehaglich zumute. Das alles schien ein wenig, na ja, ich will nicht übermäßig tugendhaft sein, ein ganz klein wenig pietätlos.
    »Zeit zu gehen, fürchte ich«, verkündete ich unvermittelt.
    »Wollen Sie nicht noch einen?«
    »Nein, danke. Aber der eine war gerade recht. Und äußerst willkommen.«
    Als wir das Pub verließen, hatte es aufgehört zu regnen. Auf dem Weg zum Auto plauderte er zwanglos weiter. Auf der Hauptstraße herrschte dichter Verkehr, also fuhr ich auf der Küstenstraße nach Hause, wo es allerdings noch schlimmer zuging. Es schien mein Tag für Mercedes zu sein. So ein widerlicher Kerl folgte mir, der es offensichtlich ungeheuer spaßig fand, den ganzen Weg über an meiner Stoßstange zu kleben. Ich war so erbost, daß ich ihn nicht überholen ließ. Ich fuhr sogar langsamer, um ihn so richtig wütend zu machen. An der Vorfahrtsstraße am Ende der Vico Road hängte ich ihn ab. Ich fuhr in die eine Richtung, er beschleunigte und fuhr in die andere. Den Rest des Weges brachte ich in gedankenverlorenem Schweigen hinter mich. Ich hatte Angst vor der Leichenfeier. Wir waren fast vor dem Haus angekommen, ehe Hanion wieder etwas sagte.
    »Ich habe mich gefragt«, meinte er, als ich an den Randstein fuhr, »ich habe mich gefragt, ob wir uns noch einmal sehen könnten, ehe Sie wieder abreisen.«
    »Warum?« Ich stieg aus.
    »Es täte mir leid, wenn ich Sie traurig gemacht hätte. Bitte?« Er kam um den Wagen herum und stellte sich neben mich.
    »Wäre nett«, erklärte ich unverbindlich.
    »Nett?« Stirnrunzelnd sah er mich

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