Fallende Schatten
eher liebevoll. Nach meiner kurzen Begegnung mit ihm verstand ich mehr oder weniger, warum dies so war. Sie sprachen beide mit der gleichen Zuneigung und Achtung voneinander. Woran auch immer ihre Beziehung zerbrochen war, das hatten sie offenbar geklärt. Ein Glücksfall.
Murray richtete dünne Roggensandwiches mit Pastrami her. Wir verzehrten sie zusammen mit Essiggurken und tranken jeder ein eisgekühltes Bier dazu. In der Wohnung war es stickig und staubig und unerträglich heiß; strahlender Sonnenschein fiel durch die offenen Fenster. Beim Essen erzählten sie mir mit einer Art entsetztem Staunen, sie hätten ein Cottage aus Stein in einem Dorf nahe Oxford gekauft und zögen nächste Woche dorthin. Murray hatte vor, bei etwas mit Namen »Bodley« zu arbeiten. Ich nahm an, es handelte sich dabei entweder um ein College oder um eine Bibliothek, wollte mir aber meine Unkenntnis nicht dadurch anmerken lassen, daß ich danach fragte.
Und Grace hatte vor, in dem neuen Haus ihren schlummernden Handel mit Büchern Wiederaufleben zu lassen, diesmal mit Murray als Partner. Die Wohnung in Clerkenwell sollte renoviert und, falls der Umzug ein Erfolg wurde, vermietet werden. Falls es jedoch mit der ländlichen Idylle nicht klappte, würden sie wahrscheinlich selber wieder dort einziehen. An Geld mangelte es ihnen offenbar nicht.
Ich beobachtete sie, wie sie Lilys Tagebücher untersuchten; sie steckten die Köpfe zusammen und berieten sich unverständlich murmelnd. Ich beneidete sie um ihre so offenkundige Zufriedenheit, die Gleichwertigkeit beider in ihrer Beziehung, ihr anziehendes Wesen. Fast spürte ich, wie ich mich zu einem kleinen Knäuel aus Einsamkeit und Selbstmitleid zusammenrollte. Bis ich merkte, Grace beobachtete mich.
»Haben Sie eine Ahnung, wer die Bücher gebunden haben könnte?« fragte ich sie unvermittelt, während Murray den Tisch abräumte und in die Küche ging, um Kaffee zu kochen.
»Murray meint, die Punzierung – die Prägung – käme ihm irgendwie bekannt vor, obwohl er nicht sicher ist, woher«, antwortete sie zweifelnd. »Das wollten wir herausfinden, obwohl ich gestehen muß, mir käme das wie ein schier unglaublicher Zufall vor.« Halb sprach sie zu sich selber.
»Sehen Sie«, meinte Murray zögernd, als er mir einen dampfenden Becher reichte, »ich glaube, ich habe erst vor kurzem etwas sehr Ähnliches gesehen. Ein hervorragender Pastiche, deshalb ist das in meinem Gedächtnis haften geblieben.« Unvermittelt hielt er inne. »Einen guten Pastiche zu machen ist schwierig. Entweder muß der Buchbinder wirklich hervorragende alte Messingpunzer – die Werkzeuge für die Prägung – auftreiben, oder er muß sie selber anfertigen, sie zurechtschneiden. Verstehen Sie?«
Ich schüttelte den Kopf. Er setzte sich neben mich, nahm meinen Finger und führte ihn behutsam über die Prägung.
»Schauen Sie genau hin«, wies er mich an, »dann sehen Sie, wo das Muster sich wiederholt. Es setzt sich zusammen aus diesen kleinen diamantförmigen Prägestempeln mit den verschlungenen Spiralen, die die einzelnen Teile des Musters miteinander verbinden. Wer auch immer das angefertigt hat«, er schob seine Brille hoch und blinzelte kurzsichtig das eingekerbte Leder an, »der hat gewußt, was er tat. Ich bin mir ziemlich sicher, er hat sich die Werkzeuge selber zurechtgeschnitten. Das ist keine Kopie, es ist im Stil – eben ein Pastiche – eines Einbands aus dem frühen 19. Jahrhundert gearbeitet, aber die Prägung sieht viel jünger aus. Witzig. Verstehen Sie?« Er legte den Kopf zur Seite und schenkte mir ein schiefes, hoffnungsvolles Lächeln. »Und natürlich ist das Leder neu. Meiner Ansicht nach französisch. Das Leder meine ich, nicht die Punzarbeit.«
»Französisch? Woran sehen sie das?« Die Bemerkung »witzig« beachtete ich nicht weiter.
»Das ist nicht besonders schwer. Die Art, wie es gebeizt worden ist, und die Qualität. Stammt von einem großen Stück, wie man es heutzutage in England nur mit Mühe auftreibt. Hey! Das alles wollen Sie doch eigentlich gar nicht wissen. Sie interessieren sich für den Buchbinder, stimmt’s?«
»Richtig. Die Tagebücher sind meiner Mutter von einem gewissen MM gewidmet worden. Aus irgendeinem Grund habe ich so eine Ahnung, MM hat sie auch gebunden – warum, das habe ich, hm, Grace erklärt.« Damit war ich ein bißchen weit gegangen. Ihre Blicke begegneten sich. Grace zuckte zweifelnd die Schultern.
»Na ja, das ist vermutlich nur ein vager
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