Fallera
Herz gebracht. Und seine Stiefel brauchte ich wesentlich nötiger als er. Denn über Nacht hatte es Frost gegeben. Und der Toni war tot.
>Der Berg hat ihn erschlagen<, würde es ein Heimatdichter wohl formulieren. Was genau passiert war, ließ sich nur lückenhaft rekonstruieren.
Christines gellender Schrei hatte uns alle ziemlich genau bei Anbruch des Tages aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte den Toni gefunden, am Fuß der Felswand, in Pullover, langer Unterhose, Wollsocken, die Schnürriemen der Bergstiefel an seinen Füßen nur in die Schäfte gestopft, aber nicht verschnürt, mit einem halbhandtellergroßen, gezackten Loch in seinem Schädeldach, wo ihn ein fallender Felsbrocken erwischt hatte. Aus der Wand gelöst, so die Mutmaßung, vom plötzlichen Frosteinbruch.
Was ich nicht kapierte, aber erst mal für mich behielt, war, was der Toni überhaupt gesucht hatte, am Fuß der Wand, mitten in der bitterkalten Nacht. Wenn er, wie es auf den ersten Blick aussah, wohl mal hatte pissen müssen, machten die vierzig Schritte, die die Wand weiter von seinem Zelt entfernt war als unsere süßlich duftende und mit Planen vor dem Wind geschützte Chemietoilette, keinen Sinn. Vierzig unnötige Schritte über von spiegelndem Eis überzogenes Geröll. Der Frost war so schnell gekommen, dass der niedergegangene Regen keine Zeit mehr zum Ablaufen gehabt hatte und an Ort und Stelle erstarrt war.
So wie ein Großteil unserer Gruppe. Die Knackis versuchten selbstverständlich, cool zu wirken, auch wenn Ernesto Che sich zwar verstohlen, aber trotzdem unüberhörbar hinter einem der Zelte übergeben hatte. Die Behinderten reagierten noch am natürlichsten. Uwe und Christine hielten einander genauso umklammert wie Egon sich eng an Alfred drückte, der hemmungslos weinte. Sie hatten ihn gemocht, den Toni.
Der Piepenkopp und ich assistierten derweil Frau Doktor Marx, die mit, wie ich fand, übertriebenem Eifer in die Rolle einer Gerichtsmedizinerin geschlüpft war.
Die einigermaßen auf der Hand liegende Todesursache hatte sie schon ihrem Diktiergerät anvertraut, das grauslich anzuschauende Loch in Tonis Kopf mit einiger Detailversessenheit beschrieben. Nun befahl sie uns, die Leiche auf den Rücken zu drehen.
Christine wimmerte, als Tonis braune Augen zum Vorschein kamen, fremd in ihrer völligen Teilnahmslosigkeit.
Was auch zum Vorschein kam, war Tonis Handy.
»Sigismund, würden Sie dem Toten bitte die Lider schließen?«
Sigismund?, dachte ich. Sigismund? Mit so einem Vornamen wäre ich wahrscheinlich auch Gewohnheitsverbrecher geworden. Ich hatte erwartet, dass er zögerte, doch der Piepenkopp schloss Tonis Augen mit dem routinierten Gleichmut des Arztes, den er irgendwann in seiner Karriere mal dargestellt hatte.
Das Handy war hinüber. Wahrscheinlich war Toni draufgefallen. Jedenfalls war es zersplittert und ebenso für immer verstummt wie sein Besitzer. Ich wollte es trotzdem einstecken, doch Frau Doktor reklamierte es für ihren Plastikbeutel, in den schon der Felsbrocken mit den Haaren und dem Blut an der scharfen Kante gewandert war.
»Beweissicherung«, sagte sie wichtig Ich reichte es ohne Murren rüber. Der Psychiater nahm es entgegen und befingerte und beäugte es mit einiger Bestürzung, bevor er es nachdenklich in den Beutel wandern ließ.
»Und wenn Sie nun einmal den Kopf hin- und herbewegen könnten, und Sie, Kristof, einen der Arme hochheben?«
Ohne Murren, wie die ganze Zeit schon, führte ich auch diese Anweisung aus, und das, obwohl meine Rolle als Resozialisierungs-Aspirant eigentlich abgedreht war. Unser gemeinsames Abenteuer war vorbei, ohne unseren hoch geschätzten Führer würden wir keinen Berg mehr erklimmen. Ich könnte mich jetzt auch genauso gut outen oder zumindest so weit gehen, der alten Schabracke zu sagen, wohin sie sich ihre Kommandos, ihre Belehrungen und ihr sonstiges Generve stecken konnte. Doch stattdessen pumpte ich brav den Arm des toten Toni. Auf diese Art konnte ich ihn untersuchen, ohne dass es, wie soll ich sagen, so wirkte. Ohne dass es auffiel. Das zerschmetterte Telefon hatte ich schon gefunden. Hm. Wen wollte der Toni, weit weg von den anderen, mitten in der Nacht anrufen?
»Rigor mortis noch nicht eingetreten«, stellte die Medizinerin fest. »Das lässt jedoch wegen der extrem kühlen Witterung wenig bis gar keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des Todes zu«, vertraute sie ihrem Diktiergerät an.
Dann verlangte sie von uns, den Leichnam zu entkleiden, und ich
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