Fallera
Ohr. »Wo bist du hingegangen, letzte Nacht?«
220 Volt jagten durch meine sterbliche Hülle, kontraktierten meine Muskeln und toupierten mir die Behaarung.
»Hä?«, machte ich, halb aufgerichtet und von gleißender Wachheit.
»Du warst letzte Nacht draußen. Ich bin wach geworden, als du dich mit der Hand auf meinem Kopf abgestützt hast.«
»Was?« Das konnte nicht wahr sein. Wahr war, dass ich geschlafen hatte, mehrere Stunden sogar, und das trotz der gefährlichen Unterdosierung an Rohypnol. Reine physische Erschöpfung, nehme ich an. Viel Bewegung an frischer Luft. Ganz das, was der Arzt empfiehlt. Doch zwischendurch aufgestanden und rausgegangen und dann wieder reingekommen - nein. Unmöglich. Unvorstellbar. Wir waren hier in den Bergen, verdammt noch mal! Ein falscher Schritt, schlafend, schlaftrunken, schlafwandelnd, im Dunkeln, und das war's gewesen.
»Das musst du geträumt haben«, sagte ich.
»Glaub mir, Kristof, ich habe im Laufe des letzten Jahres gelernt, Träume und Realität auseinander zu halten.«
Eine Fähigkeit, die mir, wenn ich einigermaßen ehrlich mit mir war, im gleichen Zeitraum in wachsendem Maße abhanden gekommen zu sein schien. Trotzdem .
Was versucht dir dieser Idiot da zu suggerieren? Immer schon ein Spinner gewesen, der Horst. Einer, der auch aus hundert Stürzen nicht lernt, dass er fürs Motorradfahren nicht geschaffen ist, sollte seinen Kopf untersuchen lassen ...
»Es wäre wichtig, dass du dich erinnerst. Schließlich, machen wir uns nichts vor, waren du und der Toni nicht unbedingt die besten Freunde. Anders als wir beide«, fügte er hastig hinzu. »Oder?«
Es gibt diesen Augenblick, vorzugsweise gegen Mittag, nach einer durchsoffenen Nacht, wenn das eine oder andere Treibgut des Gedächtnisses über die Uferlinie des Bewusstseins gespült wird, für gewöhnlich begleitet von milder Schweißbildung.
Oder wenn, mitten im Verhör, plötzlich ein wohl bekannter, wenn auch wohl vergessener oder aber wohl versteckt geglaubter Gegenstand vor dir auf die Schreibtischplatte geknallt wird, für gewöhnlich ebenfalls gefolgt von einiger Transpiration.
Beides ist kein Vergleich zu dem Ausbruch, der mich in diesem Moment überkam, jedoch ohne jeden Bezug auch nur zu einem Ansatz von Erinnerung.
Und bevor ich anfangen konnte, mein Innerstes auszuloten und Horsts ungeheuerliche Unterstellung zu entkräften, schallte Frau Doktor Marx' nervtötendes Organ durch die allzu dünnen Wände der Zelte.
»Kristof!«, schallte es. »Würden Sie sich bitte augenblicklich einmal zu uns herüberbemühen? Und ich meine augenblicklich!«
»Oh-oh«, machte Horst.
»Leeren Sie Ihre Taschen!«, verlangte die Ärztin.
Ich verstand nicht ganz. Ich war auch nicht ganz da. Mich würgte ein mächtiges Gefühl. Ein Vor-Gefühl. Packend, wie es nur die Angst zu sein versteht. Gepaart mit einer absoluten, wenn auch wenig schmeichelhaften Gewissheit. Der Gewissheit, besser auf Scuzzi gehört zu haben. Besser nicht mit auf diese absurde Reise gegangen zu sein. Besser nicht den Häftling gespielt zu haben. So was heißt, das Schicksal herauszufordern. Und das Schicksal hat, wie Gott, einen abartigen Sinn für Humor. Ich würgte an dem Gefühl, dass die Reise für mich hinter Gittern enden könnte.
»Ich sagte: Leeren Sie Ihre Taschen!«, wiederholte die Ärztin. Der Psychologe sah ihr über die Schulter dabei. Wurstauge und Sigismund hielten sich im Hintergrund bereit. Wie Musterschüler. Ich sah sie schon auf Bewährung draußen, die beiden.
Ich fing an, meine Taschen auszupacken und den Inhalt auf den Campingtisch vor Frau Doktor Marxens Nase zu werfen, während mein Gefühl von Angst umschlug in einen intensiven Hass auf die mal unerträglich weinerliche, dann unerträglich herrische Alte in ihrem Rollstuhl.
Was will sie überhaupt von dir? Was soll das? Taschen ausleeren! Und du gehorchst auch noch. Anstatt sie mit der Linken am Hals zu packen und mit der Rechten das Beil . das Beil . das Beil .
Ein allgemeines Einsaugen von Luft begleitete das Auftauchen meines kleinen Schlachterbeils, und die Luft blieb eingesaugt, bis ich es, mit äußerster Überwindung, zu dem anderen Plunder auf das Tischchen legte.
Und mich damit von meiner einzigen Waffe trennte.
Deine einzige Waffe, Kristof. Dein einziger Vorteil gegen die Irren und die Verbrecher um dich herum, deine ganze Verteidigung, sollten diese beiden durchgeknallten Mediziner auf die Idee kommen, dir irgendwas anhängen zu wollen. Jetzt, wo
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