Fallera
dicker Tropfen hier vom Baum und macht sie mir wieder aus!«
»Oh, mein Gott, können Sie nicht ein bisschen besser aufpassen? Das ist jetzt der zweite Ast, der mir ins Gesicht peitscht! Reicht es nicht, dass ich an den Rollstuhl gefesselt bin? Wollen Sie, dass ich auch noch mein Augenlicht verliere?«
»Ha! Ich hab's gleich gewusst! Doch mit mir nicht! Nicht mit mir, oh nein! Ha! Wär ja noch schöner.«
»Issas no' weit? Mirskalt.«
»Das Wichtigste in einer Situation wie der unsrigen ist, nicht in Panik zu geraten.« Der Doktor hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als der Riesenwüchsige anfing, Töne von sich zu geben wie ein brünstiger Brüllaffe.
Gleichzeitig ging eine ganze Serie von scharfen Rucken durch das Seil, und der Wald hallte wider von Schreien, Flüchen und Beschwerden. Toni kam, immer am Seil lang, den Hang hinuntergehastet, tauchte auf aus der Suppe, schlidderte vorbei, verschwand wieder außer Sicht und begann, nur Augenblicke später, gemeinsam mit dem Psychologen beruhigend auf unseren Rübezahl einzuwirken.
Dann ging's weiter. Und weiter. Bis es stiller und stiller um uns wurde, bis einer nach dem anderen verstummte und das Gefühl, ziellos durch einen nicht enden wollenden, feindlichen Wald zu irren, eine allgemeine Beklemmung auszulösen begann.
Just als irgendjemand die Stimmung auf den Tiefpunkt brachte, indem er oder sie in leises Schluchzen verfiel, lichtete sich der Nebel, lüftete sich der Vorhang, hob sich die Decke aus Dunst über unsere Köpfe, stieg hoch und höher.
Und es fing an zu regnen.
Erst wollte man es nicht glauben, nicht wahrhaben vielleicht. Erst war es ja auch nur ein verstärktes Nebelnässen. Daraus wurde dann bald ein Niesel, ein leichtes Pladdern, ein schweres Pladdern und schließlich und letzten Endes ein gleichmäßiges, beständiges, nicht auf-, nicht abschwellendes, monotones, ausdauerndes Rauschen.
Es goss.
Frau Doktor empfand das als eine ungerechtfertigte, unnötige, völlig überflüssige zusätzliche Belastung und sprach uns endlich einmal allen aus der Seele damit.
Wir kramten Regenzeug aus Taschen und Rucksäcken und packten uns und unsere Schutzbefohlenen, so gut es ging, darin ein.
Toni rannte ein wenig hin und her und auf und ab und verkündete dann, er habe den Pfad wiedergefunden und es könne eigentlich nicht mehr allzu weit sein.
>Eigentlich nicht mehr allzu weit<, dachte ich und spürte, wie eine Welle von Optimismus mich geradezu den Hang hochspülen wollte.
Leider war der Hang dagegen. Er wollte mich lieber in die andere Richtung spülen. Runter, heißt das.
War der Untergrund vorher schon tückisch gewesen, mal lose, mal fest, voller Wurzeln und dicker Steine, immer da, wo man sie am wenigsten brauchen konnte, so gewann er nun eine neue Qualität hinzu. Ich möchte sie >seifig< nennen.
Ein Schritt vor wurde gleichbedeutend mit zwei Schritten zurück. Wenn ich nicht gerade mit der Fresse im Schlamm lag, Arme hochgestreckt in verzweifeltem Bemühen, nicht von dem verfluchten Rollstuhl begraben zu werden, pürierte ich den Grund zu meinen Füßen mit einem an Michael Jacksons >Moonwalk< angelehnten, neuen Modetanz zu einer wenn möglich noch schmierigeren Konsistenz. Ich war so vertieft in mein Ballett aus Schieben, Rutschen, Fallen, Fluchen und Wiederaufrappeln, dass ich eine Weile brauchte, um zu merken, dass ich den ganzen Laden aufhielt. Toni kam wieder angehastet, auf der Suche nach dem Grund für die Verzögerung, und verfiel augenblicklich in eine längere Tirade, warum er von Anfang an gewusst habe, dass ich mit diesen Schuhen zu einer Belastung für die Allgemeinheit werden würde und wie ich mir bitte schön vorstellte, mit diesen Schuhen und unter Bedingungen wie den heutigen jemals den Rollstuhl auf den Berg zu bekommen, bis ich ihm mit einem kurzen »Dann mach es doch selbst« den Wind aus den Segeln nahm.
Die Freude war intensiv, wenn auch von nur kurzer Dauer. Sie währte genau bis zu dem Moment, wo ich im Gegenzug Tonis Rucksack übernehmen musste, und von da ab ging es dann, für mich, auf allen vieren weiter, und auch das Seil, musste ich feststellen, war nicht lang genug, um wirklich aus der Reichweite von Frau Dr. Marx' immer währendem Gejammer herauszukommen.
Oberhalb der Baumgrenze, wo der Schlamm ein Ende hatte und felsiges Geröll einigermaßen Halt bot, durften wir uns wieder ausklinken, und ich stellte mich mühsam auf die Füße, lauschte sinnend meinem pfeifenden Atem und beschloss, dass es
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