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Fallera

Fallera

Titel: Fallera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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einen Weg aus diesem Schlamassel hier.
    >Eine Woche in den Bergen wird dir gut tun<, hatte Scuzzi gesagt. Und es wahrscheinlich sogar geglaubt.
    Die Reste der Fußabdrücke zeigten in beide Richtungen, hin und zurück, entlang einer ungewöhnlich exakten Linie. Einer Kurve. Eines Kreisbogensegments, um eine unmissverständliche Ausdrucksweise beizubehalten. Mit einer klar zu definierenden Mittelachse in Form eines etwa waschmaschinengroß aus dem Boden ragenden, stoisch dreinblickenden Felsens runde zwanzig
    Meter weiter hangaufwärts. An seinem Rücken hatte er einen recht scharfen Grat, und als ich den darauf abgelagerten Schnee mithilfe meines Personalausweises sachte abschälte, entdeckte ich die erwarteten, an der Kante haftenden blauroten Kunststoff-Fasern.
    Jemand hatte sich mit einem Seil gesichert, um, hin und her stapfend, eine Lawine loszutreten. Nachdem ihm kurz zuvor und an anderer Stelle nur der Start eines enttäuschend mageren Schneebretts gelungen war.
    Und Uwe hatte ihn, anders als der Rest von uns, trotz des dichten Schneetreibens dabei beobachtet, obendrein begriffen, was er vorhatte, und mich zu warnen versucht. Während ich, anstatt darauf zu reagieren, mich nicht entblödete, billige Witze aus den Sprachbehinderungen meiner Begleiter zu melken. Zu denen es, nebenbei, höchste Zeit wurde zurückzukehren.
    Die Felsgruppe schon, aber sonst noch niemanden vor Augen, drang ein schauderhafter, lang anhaltender Schrei an meine Ohren und zerriss die für dichten, windstillen Schneefall so eigentümliche, gedämpfte Ruhe. Ein rauer Schrei voll nackten Entsetzens, ein Schrei, wie ich ihn nur zu gut kannte.
    Zweimal schon hatte mich so einer des Nachts aufgeschreckt, in meinem Wohnklo in der siebten von vierundzwanzig Etagen dieses vertikalen Slums, in den ich geraten war wie in alles in den letzten Monaten - umnachtet - war an meinem Fenster vorbeigekreischt und jedes Mal mit abrupter Schärfe und einem dumpfen Klatschen geendet.
    Der Schrei, den es dir aus der Brust reißt, sobald dir aufgeht, dass du den einen Schritt getan hast, den du nie wieder wirst zurücknehmen können.
    Ich hastete, atemlos, mit weit aufgerissenen Augen vorwärts, in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Nur die beiden Stangen lagen noch da, wo wir Horst zurückgelassen hatten, komplett mit den Befestigungsriemen, doch der Rollstuhl war fort, gerollt, wie an seinen Spuren klar zu erkennen. Sie führten um ein paar Felsen herum und folgten dann einem logisch wirkenden, in sanften Schwüngen verlaufenden, eben in die Bergflanke hineingearbeiteten Pfad. Ein roter und ein weißer Strich an der Seite eines riesigen, schräg am Hang liegenden Granitklotzes verrieten, dass Horst den Höhenwanderweg gefunden hatte, zusammen mit anderen, wie man an dem zertrampelten Schnee sehen konnte.
    Eine Biegung weiter, und Ernesto Che starrte entgeistert und mit Schwindelgefühlen ringend eine schroffe Klippe hinab. Direkt neben ihm führten die Parallelspuren der Rollstuhlbereifung in rechtem Winkel auf den Abgrund zu.
    »Ich habe nur den Schrei gehört ...«, stammelte Ernesto, sichtlich geschockt, und wich meinem Blick aus. Er war ohne Gepäck unterwegs, aber auch ohne Seil, was mich von dem spontanen Impuls, ihn am Hals zu packen und ein bisschen durchzuschütteln, abrücken ließ. Wer immer die Lawine ausgelöst hatte . Vier oder fünf dieser blauroten Kletterstricke, meinte ich mich erinnern zu können, kursierten innerhalb der Gruppe .
    Ich trat an den Rand, beugte mich vor, soweit ich es wagte. Fünfzig Meter hört sich nicht besonders hoch an, nicht, wenn die Gipfel ringsum in Tausendern gemessen werden. Bis man sich vor Augen hält, dass das fünf Zehnmeterbretter übereinander sind oder gut und gerne sechzehn Etagen.
    Die Klippe wölbte sich vor, so dass man ihren Fuß von oben nicht einsehen konnte. Wer hier herunterfiel, geriet schon auf halber Strecke komplett außer Sicht.
    »Was ist passiert?« Krumm wie ein Fragezeichen kam Atze angehechelt, ebenfalls ohne seinen Rucksack, dafür aber mit einem langen Seil um die Schultern. Wortlos nahm ich es ihm ab. »Wer hat da so gekreischt?«
    »Der Horst .«, erklärte Ernesto und wies hilflos auf die Reifenspuren, und Atze erbleichte.
    »Da runter?«, fragte er, und wir zuckten die Schultern.
    »Und wo sind die andern?«, wollte er wissen.
    »Dr. Weifenheim und Wurstau-, der mit der Brille, sind tot«, teilte ich ihnen mit und fand im näheren Umkreis nichts, um das Seil zu befestigen.

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