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Fallera

Fallera

Titel: Fallera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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»Sind in eine Lawine geraten. Zusammen mit Frau Marx. Alfred, Egon, Christine, Uwe und ich haben alle drei wieder ausgegraben, aber für die beiden kam jede Hilfe zu spät.«
    »Und Horst?«, fragte Atze, ging auf alle viere runter und stierte über die Kante.
    »Tja, sieht so aus und hat sich für mich so angehört, als wäre er genau hier über die Klippe gegangen. Aber warum?« Ich positionierte Ernesto, so weit es ging, von der Kante weg und wickelte ihm das Seil einmal diagonal um den Oberkörper, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte, klinkte das kurze Ende mit seinem Karabinerhaken vorne in meinen Hosengürtel und legte das restliche Bündel neben Ernestos Füße. »Meinst du, du kannst mich halten?«, fragte ich ihn und, als er nickte, »und gleichzeitig langsam und gleichmäßig Seil nachgeben?« Er stemmte sich in den Schnee, verschaffte sich einen festen Stand und nickte wieder. Ließ das Seil durch beide Hände gleiten und um seinen Oberkörper wandern, bis ich an der Kante stand. Urgs.
    »Vleischt Selbsdmord?«, bot er auf meine früher gestellte Frage nach dem Warum an.
    »Horst«, sagte ich und lehnte mich gegen das Seil, hängte meinen Arsch über den Abgrund, »und Selbstmord«, sagte ich. »Ausgeschlossen.«
    Außerdem waren da noch Fußspuren zwischen den Reifenabdrücken. Schwer verwischte Fußspuren wie die von jemandem, der schwer zu schieben hat.
    Das Vertrauen, das es braucht, um sich, waagerecht zum Boden, in rechtem Winkel zur Wand, Kehrseite voran und nur an einer viel zu dünn aussehenden Strippe hängend, Schritt für Schritt rückwärts abzuseilen, ist unvorstellbar. In Therapie, damals im Knast, wollten sie, dass ich mich kerzengerade nach hinten fallen ließ, wo mich dann einer aufgefangen hätte. Ich habe es nicht ein einziges Mal fertig gebracht. Warum ich diese im Grunde ähnliche und dabei ungleich riskantere Übung hier unternahm, ich werde es nie erklären können. Manche Dinge macht man einfach.
    Die nahezu senkrechte Fläche war Gott sei Dank spröde und kaum vereist.
    »Horst?«, rief ich zwischendurch ein paar Mal, »Horst?«
    Blödsinn, sicher, einen Fall von fünfzig Metern überlebt man nicht mal, wenn unten tiefes Wasser ist, doch in solchen Situationen klammert man sich an die irrwitzigsten Hoffnungen. »Horst?«
    Bis zur Hälfte des Abstieges sah ich Atze noch oben an der Kante knien, mich mit aufmunternden und Ernesto mit bremsenden Handzeichen versorgend, dann geriet er Schritt für rückwärts und abwärts führenden Schritt außer Sicht, und ich hing allein in der Wand.
    Na also, sagte ich mir. Du hast hochalpinistische Action haben wollen, und hier ist sie nun. Freu dich dran, solange dein Gürtel hält.
    Die nächste, nie geahnte Schwierigkeit bestand darin, dass die Wand nach außen gewölbt war und nun allmählich mehr als senkrecht wurde - überhängend. Da all mein Halt aus dem Druck bestand, mit dem ich mich gegen das Seil stemmte, wurde ich nun, wo die Wand unter meinen Füßen langsam wegwanderte, mit dem seltsamen Gefühl nachlassender Schwerkraft konfrontiert. So geht das nicht, dachte ich, während Ernesto oben weiter und weiter Seil nachgab, ich muss Atze zurufen, er soll - Das zweite Mal heute und damit das vierte Mal in meinem Leben gellte mir dieses Grauen erregende, jeden, der es jemals wahrnahm, für immer in seinen Träumen verfolgende Geräusch in den Ohren, diese Verlautbarung schieren Entsetzens, und Atze kam, kopfüber, Mund und Augen aufgerissen, Hände ausgestreckt, Finger gespreizt, brüllend auf mich zu und nur um eine Handbreit an mir vorbei, und noch ehe er aufschlug, stimmte ich mit ein in seinen heiseren Schrei, als das gerade noch so straffe, so schnurgerade Seil sich plötzlich vor meinen Augen zu einer Wellenlinie entspannte und ich rückwärts ins Nichts fiel.
    Ich hatte Glück. Gott, was hatte ich ein Glück. Verglichen mit Horst oder Atze. Die waren beide mit dem Kopf zuerst gelandet. Ich mit den Füßen. Gut, es hatte mich noch gewaltig umgerissen und mit Wucht auf den Boden gehauen, und, ja, den Schädel schlug ich mir auch an, hart genug, um ein paar Füllungen zu lösen und Hunderte von strahlend weißen Pünktchen auf die
    Reise quer über meine Netzhaut zu schicken, aber trotzdem: kein Vergleich. Überhaupt kein Vergleich.
    Atze lag mir am nächsten. Er kniete, wie es aussah. Alles, was die Wand über uns wegen ihrer starken Neigung und Wölbung nicht an Schnee hatte halten können, war an ihr herabgerieselt und hatte sich

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