Fallera
Entdeckung einer leibhaftigen Überlebenden brachte auch mich wieder ans Wühlen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung.
Als Erstes fand ich seine Brille. Kurz darauf seinen Schuh. In dem Schuh ein Fuß, an dem Fuß ein Bein. Ich schrie sie alle zu mir, und in kürzester Zeit hatten wir Wurstauge ausgegraben. Schon als wir drankamen, den Halsbereich freizulegen, wusste ich allerdings, dass unsere Bemühungen fruchtlos waren. Wenn sich Hinterkopf und Schulterblatt berühren, ist mit deinem Genick irgendwas Fundamentales nicht in Ordnung. Wurstauge lebte nicht mehr, da konnten sie ihn herzmassieren und mundbeatmen, wie sie wollten.
Wer jetzt wohl die Briefmarkensammlung bekommt?, fragte ich mich, irrational wie so oft im direkten Kontakt mit dem uns alle erwartenden Ende.
Schließlich gaben sie es dran, doch zum Trauern blieb keine Zeit. Noch fehlte einer.
Da alle drei zum Zeitpunkt des Lawinenabgangs dicht beieinander gewesen waren, konzentrierten wir unsere Bemühungen auf die Nachbarschaft der beiden Fundorte, und rund eine Stunde später zogen wir den Dritten ans Licht, zu meiner Überraschung Dr. Weifenheim, den ich vor uns gewähnt hatte. Der Doktor selbst konnte nichts mehr beitragen zur Klärung der Umstände. Ein solider Pfropfen Schnee verstopfte ihm den Mund und, vermutlich, auch die Luftröhre. Ich arbeitete meine Finger, soweit es nur ging, hinein in seinen rosaroten Schlund, doch selbst weit hinten im Rachen war immer noch kompakter Schnee unter meinen tastenden Fingerspitzen, unter meinen kratzenden Nägeln. Er war erstickt. Puls oder sonst irgendein Anzeichen von Leben war nicht mehr auszumachen.
Achselzuckend richtete ich mich auf und fand mich umgeben von Gesichtern voller Hilflosigkeit, Trauer und Entsetzen. Christine, Uwe, Egon und Alfred hielten einander an den Händen oder in den Armen und wimmerten vor sich hin, die Augen starr auf die Leiche des Doktors gerichtet. Und schon das zweite Mal auf dieser Reise zeigte sich, dass die kryszinskische Betrachtungsweise nicht immer mit der seiner Mitmenschen übereinstimmt. Was mir ein nervensägender, klugscheißender Klotz am Bein, war den andern offensichtlich Stütze und väterlicher Freund gewesen.
»Und ich habe sie wieder und wieder ermahnt, sie sollten vorsichtig auftreten«, riss mich Frau Doktor aus meinen Gedanken, unterbrochen von einem elektronischen Piep und dem Stoßseufzer »Oh nein, schon wieder ein Zehntelgrad weniger!«.
Doch wollten sie hören, die wieder und wieder Ermahnten? Nein, und das hatten sie nun davon.
Völliger Humbug, natürlich. Die Lawine war viel weiter oben losgetreten wor-Wer hat das gesagt?
»Sucht nach dem Rollstuhl oder zumindest nach der zweiten Stange«, rief ich über meine Schulter zurück, auf allen vieren unterwegs, den eisglatten, allmählich unter einer neuen Schneedecke verschwindenden Hang hinauf, koste es, was es wolle.
»Und dann schafft Frau Marx nach oben, zum Horst! Wir treffen uns bei ihm!«
»Frau Doktor Marx!«, schallte es mir noch hinterher.
Die etwa fünfundzwanzig Zentimeter hohe Abbruchkante war nicht mehr so scharf wie wahrscheinlich direkt nach dem Abgang, sie stand auch nicht mehr senkrecht zum Gefälle, sondern neigte sich unter der hangwärts drückenden Last immer neuer, instabiler Lagen Schnee weiter und weiter vorwärts.
Nicht mehr lange, und sie wäre unter dem eigenen Gewicht kollabiert.
So aber kam ich gerade noch rechtzeitig. Um die Spuren zu sehen. Die Fußspuren.
Schuhspuren, um es genauer auszudrücken.
Schuhspurhälften, um die Pedanterie auf die Spitze zu treiben.
Ich setzte mich, wo ich war, zog die Handschuhe aus und kramte in meinen Taschen, bis ich ein zerknülltes Päckchen Camel und ein Feuerzeug gefunden hatte. Mit zitternden Fingern steckte ich mir die Erste seit Stunden an.
Das mich durchströmende Gefühl war das von immenser Erleichterung.
Ich war das nicht gewesen, der dem Toni eins mit dem Felsbrocken übergebraten hatte. Und ich hatte auch Frau Doktor nicht mit Rohypnol betäubt und dann hinaus ins Kalte gezerrt.
Selbstverständlich hatte ich beides nie von mir geglaubt. Nie. Zu keinem Zeitpunkt.
Aber zu hundert Prozent sicher war ich mir auch nicht gewesen.
Zwölf Monate lang hatte ich mich wie ein Wahnsinniger gebärdet, bis mich zu guter Letzt nichts mehr wirklich überrascht hätte.
Doch nun war es besser. Ja. Ich würde einen Weg finden. Damit fertig zu werden. Ja. Ich würde einen Weg finden. Immer vorausgesetzt, ich fand vorher
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