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Fallera

Fallera

Titel: Fallera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Ohne die, ging mir auf, waren wir in noch größeren Schwierigkeiten als bisher schon. Ich fing nun meinerseits an, hektisch herumzukraxeln und angewehten Schnee von vielversprechend aussehenden Felspartien zu wischen, als ein nur zu bekannter, getragener, um nicht zu sagen traniger Tonfall an mein Ohr drang und mich wünschen ließ, wir wären weitergehastet, anstatt zu pausieren.
    Axtmörder Wurstauge und, schwer auszumachen mit Kapuze und allem, eine gedrungene Gestalt kamen in Sicht, Frau Doktor zwischen sich, und da ich aus mittlerweile eigener Erfahrung wusste, wie höllisch schwer das Tragen an diesem Hang war, seufzte ich einmal abgrundtief und stapfte ihnen entgegen.
    Ich kam vier Schritte weit und erstarrte.
    Regel Nr. l, wenn du dir deiner Wahrnehmung nicht ganz sicher bist: Bemühe dich um größtmögliche Nonchalance, aber nimm das Geschehen um dich herum bis zum Beweis des Gegenteils auf alle Fälle als real an, nimm es ernst.
    Die komplette Abwesenheit von Lärm war es, die mich im ersten Augenblick an meinen optischen Informationen zweifeln ließ. Wenn etwas so Großes, wenn eine solche Menge Material sich so schnell bewegt, erwartet man ein entsprechendes akustisches Drama, einen Mordsradau.
    Von rechts oben wälzte sich eine riesige weiße Wolke in mein Blickfeld, in rasendem Tempo und traumsequenzhafter, hypnotischer Stille, bis mir die vorauseilende Sturmböe einen Knuff versetzte, die Kapuze vom Kopf riss und kurz in meinen Ohren jaulte. Zischend, zischelnd wie eine Woge am Strand kam die weiß stäubende Masse keine zehn Meter vor meinen Füßen vorbei, entfernte sich unter sanftem Donner wie ein in weiter Entfernung eine Brücke querender Zug, rauschte noch zwei- oder dreihundert Meter zu Tal und verpuffte dann gegen einen ihren Pfad kreuzenden Felsausläufer. Eine weitere Sturmböe fegte vom Ort des Aufpralls heran wie die Druckwelle einer Explosion, und dann war alles wieder ruhig. Zurück blieb der kahle, eisglasierte Hang, durchzogen von senkrechten weißen Striemen und schon erneut betupft von den weiterhin herabrieselnden Flocken. Was nicht zurückblieb, war auch nur die kleinste Spur von Frau Doktor und ihren beiden Trägern.
    Im Ruhezustand besaß die Lawine eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Schneehaufen, die die Räumkommandos an den Straßenecken der Stadt auftürmen. Sie war dreckig, meine ich damit, knubbelig, durchsetzt mit Steinen und Ästen und was immer sie so auf ihrem Weg aufgesammelt hatte. Inklusive dreier Menschen.
    Bis auf - verständlicherweise - Horst waren wir alle den Abhang hinuntergeschlittert und standen jetzt, außer Atem, mit großen, ratlosen Augen vor den gut und gern fünfzig oder hundert Tonnen durcheinandergewirbelten Schnees und Drecks.
    Es war ein seltsames Gefühl, draufzusteigen auf diesen Berg, nur damit zu vergleichen, nachts im Dunkeln über ein großes Matratzenlager voller Schlafender gehen zu wollen. Jeden Augenblick meinte man, unter seiner Sohle ein Nasenbein knacken zu hören, oder Handknochen, oder Rippen.
    Egon rief »'omma 'ier!« und deutete aufgeregt, und als ich bei ihm war, sah ich das Ende eines der beiden Stahlröhre aus der weißbraunen Masse ragen. Sofort fingen wir an zu graben, mit den Händen, den Füßen, wie Hunde über einem Karnickelbau, doch unsere Hoffnung erfüllte sich nicht. Das Rohr hatte sich vom Rollstuhl gelöst. Ratlos hielt ich es in Händen, bis Alfred es mir abnahm und in den Schneeberg rammte, wie im Versuch, einem der Verschütteten eine kreisrunde und daumendicke Gewebeprobe zu entnehmen. Alle anderen gruben jetzt, ziellos, stocherten, mit was ihnen in die Hände fiel, planlos herum.
    Das hat keinen Zweck, dachte ich und bewegte mich vorsichtig zum Rand des Schneehaufens, um herabzusteigen. Wer immer sich hier drin befindet, ist tot, dachte ich, doch sagte ich nichts. Lass sie, dachte ich, lass sie buddeln, irgendetwas müssen sie tun, das ist nur menschlich. Trotzdem, dachte ich, irgendwann wird es Zeit weiterzuziehen. Ich war noch nicht ganz am Rand, da bildete sich unter meinen Füßen ein Riss, ein Lawinenfragment von der Größe einer halben Garage löste sich und kippte zur Seite, und jemand stöhnte. Noch ehe ich Zeit fand, wieder auf die Beine zu krabbeln, fragte schon eine Frauenstimme mit mittlerweile gewohnter, anklagender Mattigkeit, ob das wirklich nötig gewesen wäre, sie so lange warten zu lassen. Viel hätte nicht gefehlt, und sie hätte keine Luft mehr gekriegt in all dem Schnee.
    Die

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