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Fallera

Fallera

Titel: Fallera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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aufsteigen, als der Schütze die Blechplatten vor meinen trommelnden Füßen traf. Der Wunsch, einem Instinkt zu folgen, in Embryohaltung zu Boden zu fallen und die Hände über den Kopf zu nehmen, kam nahe daran, mich von den Beinen reißen, doch die wollten nichts davon wissen und rannten einfach weiter, bis wir uns am anderen Ufer hinter einen Felsen werfen konnten. In Embryohaltung, ich gebe es zu, aus der ich mich nur schrittweise zu lösen vermochte. Unter Beschuss zu stehen ist eine eigenartige Erfahrung, eine drastische Wahrnehmung der eigenen Verwundbarkeit, und die Reaktionen darauf sind nicht immer memoirentauglich.
    Jetzt hörte ich die Schüsse und auch, wie die Brücke noch eine Weile scheppernd nachvibrierte.
    Christine kauerte neben mir, atmete in Stößen und war weiß wie die Kochwäsche in einem Spot für das wahnsinnig machende Kunstwort Megaperls. Langsam wandte sie sich zu mir, und ich habe noch nie in ein Antlitz von solch kalter Rage geblickt.
    »Sie schießen auf uns!«, stieß sie hervor, bebend vor Entrüstung, und der Schnee auf dem Felsen über uns stäubte, als der nächste Schuss verhallte.
    Sie hatte Recht, mit dem Plural meine ich, denn das war nicht nur der gute Sigismund, der uns da unter Feuer nahm. Der letzte Schuss war aus einer ganz anderen Richtung gekommen, von hier, von dieser Seite der Edda-Schlucht, und obendrein, was mir Sorgen machte, von viel näher. Ich robbte ein wenig vor und linste unter dem Fahrgestell eines Förderbandes hindurch.
    Oben, in der Öffnung mit der Türe mit der Bezeichnung 7A, stand der bayerische Justizminister in Gamsjagd-bei-Schnee-Ausführung und warnte mich vor, indem er jemandem auf der anderen Seite der Brücke armrudernd Anweisungen zubrüllte.
    Anweisungen kann er gut geben. Hat ja auch die Polizisten damals instruiert, wie sie den Unfall aufzunehmen hatten. Doch, ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich mit Schärfe.
    Christine und ich rutschten herum in die Richtung, in die er brüllte und gestikulierte, und sahen die beiden Brüder im
    Schweinsgalopp den gleichen Pfad entlangrennen, den wir gerade gekommen waren. Sie liefen offen, ohne auch nur den Gedanken an Deckung, in einer schamlosen, einer überheblichen, selbstgefälligen Demonstration von Übermacht. Sie wussten, wir waren unbewaffnet, und fühlten sich gut dabei. Nur fünfzig Schritte oder so trennten sie noch von der Brücke. Wuchtig, breitschultrig, massig stürmten sie darauf zu, Gewehre in Händen. Nichts schien sie mehr aufhalten - zu können, und ich wollte weg, blind, panisch, nur noch rennen, als es direkt neben meinem Ohr sirrend knisterte und scharfer Rauch in meine Nase stach.
    »Schmeiß weg!«, schrie ich, als ich sah, mit welchem Tempo die Zündschnur brannte. Und Christine warf.
    Tja.
    Sie warf wie eine Frau. Eine halb blinde obendrein. Ich will es so sagen: Sie hatte Glück, dass sie sich die Dynamitstange nicht in den eigenen Kragen beförderte.
    Na gut, sie traf die Brücke. Mit einigem Effekt obendrein. Leider fanden die beiden Brüder noch die Zeit, vorher zu stoppen und sich links und rechts zu Boden zu werfen, dann ging der Sprengsatz hoch, mit scharfem, gewalttätigem Knall, körperlich spürbar wie ein Boxhieb, gar kein Vergleich zu dem ähnlich aufgemachten Silvester-Spielzeug. Auch in der Wirkung nicht. Er explodierte im Flug und erwischte das eine der beiden Tragseile mit Wucht. Es platzte auf wie eine Wurst, ächzte ein bisschen, zog sich in die Länge, wurde sichtlich dünner dabei und riss schließlich in der Mitte auseinander, was die Fahrbahn abkippen und anschließend nutzlos an ihrem verbliebenen Seil hin und her schwingen ließ.
    Zwei Sekunden später gezündet und geworfen, und sie hätte Gustl und Wastl erwischt gehabt, ihnen zumindest die Brücke unterm Arsch weggesprengt. Stattdessen rappelten sich die Brüder unverletzt auf, schulterten ihre Gewehre und nahmen uns ins Kreuzfeuer.
    »Wir kriegen dich, Christine«, schrie einer von ihnen, über die peitschenden Schüsse hinweg. »Freu dich schon drauf! Und diesmal bist du reif!«
    Ich rannte ein Stück, warf mich zu Boden, hörte das Pock und das Klonk und das Whirr der Einschläge um mich herum, suchte mir das nächste Ziel, den nächsten vielversprechenden Kugelschatten, sprang wieder auf die Füße, rannte im Zickzack dahin und warf mich dahinter.
    Dreizehn Monate lang hatte ich versucht, mich umzubringen, und jetzt, wo ich allmählich anfing, den Geschmack am Dasein wiederzuentdecken, musste

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