Fallkraut
Gast ist niemandem zur Last.«
Ich lasse mich in einen der beiden Sessel plumpsen. »Puh, erst mal alles wieder sortieren.«
Valentine ist eifrig mit Blusen, Pullis, Röcken, Unterröcken und Strümpfen zugange.
»Willst du dich nicht auch mal kurz setzen?«, frage ich. Ich klopfe auf den Sessel neben mir. »Komm«, sage ich, »von der Reise erholen.«
Valentine nimmt einen Kleiderbügel und drapiert einen Unterrock, eine Bluse und einen Rock darüber. Die Verpflegungstasche steht unangerührt vor dem Bett.
»Hast du nicht Lust, was zu schnabulieren?«, frage ich. »Nichts zur Feier des Tages? Nichts, weil wir am Ziel sind? Was zu trinken vielleicht?«
Valentine schüttelt den Kopf und fährt mit ihrer Beschäftigung fort.
Seufzend stehe ich auf. Dann werde ich auch mal was tun. Es macht keinen SpaÃ, allein zu schnäpseln.
Vorsichtig stelle ich meinen Geigenkasten in die ÂschmaÂle Lücke zwischen dem Schrank und der Wand. Ich klappe meinen Koffer auf, hole meinen Schlafanzug heraus, klopfe ihn aus und frage: »In welchem Bett willst du schlafen? In dem am Fenster?«
Valentine gibt keinen Mucks von sich.
»Prima«, sage ich. »Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich das Bett am Fenster.«
Na toll, da hab ich alles organisiert, und zum Dank kriege ich so eine Flappe. Bis oben hin zugeknöpft. Genau wie Papa früher.
Schweigen, das konnte Papa gut.
Schweigen, wenn Mama etwas getan hatte, was ihm nicht gefiel. Mama machte alle möglichen Verrenkungen, umsorgte ihn und schmeichelte, legte noch ein Stück Fleisch auf. Hier, ein leckeres Stückchen für dich, ja, Liebling?
Schweigen, wenn Valentine zu gierig nach den Kartoffeln griff, so dass zu wenig für Papa übrig blieb.
Schweigen, weil ich nicht beim Violinwettbewerb in Marienbad gewonnen hatte.
»Was treibst du eigentlich bei deinen teuren Geigenstunden?«, fragte Papa. »Du stehst auf der Bühne wie ein Sack Kartoffeln. Bezahle ich dafür das ganze Geld?« Und das war zugleich das Letzte, was er sagte. Papa ignorierte mich bei Tisch, sprach über mich in der dritten Person Singular. Und da löst man sich auf, als ob man nicht wirklich im Zimmer wäre, als ob der Körper nicht fünfzig, sechzig, siebzig Kilo wöge. Läuft man am Spiegel im Flur vorbei, dann wundert man sich, dass man überhaupt noch ein Spiegelbild sieht. Das ist doch lächerlich.
Ich habe diese stille Flappe so was von satt. Ich habe sie achtzehn Jahre in Sonnenberg ertragen, und jetzt bin ich dreiundsechzig und schlage mich selber durch. Herrgott noch mal. Dieser dumme Protest von Valentine, die nie mit irgendwas zufrieden ist, aber nie auch nur einen Finger rührt, um selbst etwas zu organisieren.
Wer muss denn hier immer alles regeln, weil Madame ständig aus dem Konzept gerät? Warum kann ich es ihr nie recht machen? Und warum ist es so schön einfach, wenn ich alles tue?
»Valentine«, bitte ich, »sag was.«
Valentines Hände hängen reglos über ihrem Koffer.
»Ich glaube«, höre ich sie murmeln, »ich habe Heimweh.«
»Heimweh?«, frage ich. Wenn Krüske gesagt hätte, dass gerade eine Nachricht vom Concertgebouw-Orchester gekommen wäre, sie hätten mich Bruchs 1. Violinkonzert spielen hören und würden mir die Stelle des Ersten Geigers anbieten, hätte mein Unterkiefer nicht weiter herunterklappen können vor Verblüffung. »Aber wonach kannst du denn schon Heimweh haben?«
4 Valentine
»Siehst du den Polarstern?«
Ich schaue zur Seite und sehe gerade noch Sigrids Rücken verschwinden. Sie läuft, beide Hände fest um ihre Taille geschlungen, die Treppe zum überdachten Teil der Fähre hinunter. Ich schniefe. Mir ist nicht kalt, obwohl es nach Einbruch des Abends kühl ist auf dem Wasser. Ich habe genügend Winterspeck. Mein Ofen bekommt ausreichend Nahrung, im Gegensatz zu Sigrids.
Der Rhein schwappt gegen den Bug der Fähre und verbreitet einen Geruch von Pilzen, Weichspüler und Ãl. Ein Turnschuh und ein Karton Omo-Waschpulver schaukeln vorüber. Die Vögel, die eben noch über die Wasseroberfläche strichen, haben ihre Nester aufgesucht. Am Kai liegt ein Ausflugsdampfer der Köln-Düsseldorfer mit bunten Lichterketten um den Schornstein gewickelt. Ãber der Reling des Schiffes hängt ein Schatten. Eine schwüle Brise trägt Würgelaute
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