Fallkraut
löste das Orchester nach einer Tournee in Twente auf, wo sich bei einem Konzert zwei Freier gemeldet hatten. Ein Gemeindebeamter für Valentine. Ein Geschichtslehrer für mich. Nach unserer Hochzeit verschwand Papa bei Nacht und Nebel.
»Auch das klappt wieder«, sage ich vor mich hin, als ich auf dem ersten Bahnsteig ein Schild mit einem Pfeil zu den Toiletten entdecke. Aber die Klofrau verlangt Geld, und ich habe dummerweise mein Portemonnaie bei Valentine gelassen.
»Gedankenlos von mir«, sage ich zu der Frau. »Und ausgerechnet jetzt, wo ich es eilig habe. Nein, ich habe keinen Pfennig bei mir. Und mein Zug â¦Â« Ich zeige in die Richtung, aus der ich komme.
»Tja, schade«, antwortet die Klofrau gedehnt. Sie stützt sich mit den Ellenbogen auf das Tischchen, den Kopf auf den Händen. In ihrem rechten Mundwinkel baumelt eine Zigarette.
Ich bin unschlüssig.
Die Frau schiebt ihren Hocker zurück, schlägt ein Bein über das andere. Sie inhaliert und bläst Rauch aus, als würde sie eine Fahne hissen. In einem graugelben ÂEimer neben dem Hocker schwimmen Kippen und Tabakfäden.
»So läuft das«, sagt die Frau und zuckt mit den Schultern, »ohne Geld kein Geschäft, kein groÃes, kein kleines.«
»Oh, aber ich muss gar nicht«, sage ich. »Darf ich mir nur mal die Hände waschen? Bitte, gnädige Frau.«
Die Klofrau drückt ihre Zigarette aus, und bevor sie eine neue aus der Packung schnippt, klopft sie mit einem rosa lackierten Fingernagel auf die Untertasse mit den Münzen: »Erst die Moneten. Wenn ich jeden, der sich nur die Pfoten waschen will, kostenlos reinlasse«, sie lacht schrill, »wer soll dann meine Fluppen bezahlen?«
Ich putze mir mit einem von Valentines Taschentüchern und ein bisschen Kölnisch Wasser die Hände ab. Zurückhalten geht nicht, also muss ich im Bummelzug über ein dunkelbraunes Loch im Boden. Das Hocken fällt mir weniger schwer als das Zielen, weil alles um mich herum wackelt und ruckelt und ich versuche, Augen und Nase zu schlieÃen vor dem beiÃenden Uringeruch und den gelbbraunen Flecken zehn Zentimeter von mir entfernt. Ich rühre nichts an, es findet kein Bakterienkontakt zwischen dem ranzigen Schweinestall und meiner bloÃen Haut statt. Ich nehme nicht einmal ein Stück Zeitung, um mich untenrum abzuwischen.
Ich ziehe heute Abend eine frische Unterhose an.
»Erleichtert?«, fragt Valentine.
»Sicher«, antworte ich. »Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf, verkneif es dir, bis wir im Hotel sind.«
Von Koblenz an knarzen wir auf der anderen Rheinseite weiter, am schönsten Teil des Flusses entlang. Ich kenne ihn nur von Bildern: das enge Stück zwischen Koblenz und dem Binger Loch, wo der Fluss zwischen Weinbergen schäumt und das schnell strömende Wasser durch eine Menge Buhnen im Zaum gehalten wird. Nach jeder Schleife taucht eine neue Burg oder Ruine auf. Im Schatten von Schieferfelsen stehen Fachwerkhäuser kalt und klamm, aber am anderen Ufer herrscht fröhliche Stimmung. Da scheint die Sonne, und die Terrassen sind voll.
Jemine, Urlaub. Herrlich, zusammen mit Tine.
Valentine leckt sich die Lippen und greift wieder nach der Dose mit Hühnerschenkeln.
Ich beuge mich vor und lege meine Hand auf ihren Unterarm. »Ach komm, Tine, jetzt mal nicht essen. Genieà die Aussicht.«
Wir überholen Flusskähne, Baggerschiffe und Schubboote, die wie Zugpferde auf schwerem Lehmboden gegen den Wind ankämpfen. In ihrem Kielwasser ein Fächer von aufspritzendem, weiÃgelbem Schaum. Als ich auf einem Achterdeck eine holländische Fahne flattern sehe, zwinkere ich Valentine zu.
»Käsefresservolk«, sage ich.
»Zwieback mit Abschaum«, antwortet Valentine.
Das klingt so lächerlich aus ihren geschminkten Lippen, dass ich anfange zu lachen. Als Valentine obendrein noch einen lauten Knaller lässt, gibt es kein Halten mehr.
»Klingelingeling«, sagt sie und hebt den Finger. »Bericht aus Darmstadt.«
Es ist genau wie früher, als ich mit Valentine den Weg von unserem Haus zum Bahnhof im Wald entlangschlurfte und wir uns kugelten vor Lachen.
»Hör auf«, wimmere ich und wische mir den Schnodder unter der Nase ab.
Valentine hält sich die Hände vor die Augen. Sie gibt schluchzende Laute von sich.
Ich presse die Hand auf meinen Bauch. »Au, au, es tut einfach zu weh. Schluss
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