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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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ist alles. Wirklich. Auch wenn ich nicht mit fünfzehn beinahe auf dem Keilberg erfroren wäre, gäbe es nicht viel mehr zu berichten.
    In Düsseldorf betritt ein neuer Schaffner unser Abteil mit der Mitteilung, dass wir in Köln auf Gleis 2 ankämen, aber anders als im Fahrplan ausgewiesen, müssten wir für den Personenzug nach Koblenz und Lorch nach Gleis 13a. »Das ist ein ziemliches Ende.«
    Ich sehe Panik in Valentines Augen aufflammen.
    Ein paar Kilometer weiter beginnt meine Schwester, die Hühnerbeine, das Zitronenwasser, die Leckkekse und die Servietten in der Verpflegungstasche zu ordnen. Ich schaue zu, wie ihre Arme auf und ab stampfen, bis alle Dosen, Flaschen und Servietten ihren Platz in der Tasche gefunden haben. Schwer atmend holt Valentine schließlich ein Fläschchen Kölnisch Wasser hervor und sprüht sich das Zeug an den Hals und unter die Achseln. Dann hält sie mir die Flasche hin.
    Â»Nein danke«, wehre ich ab, »von diesem Geruch wird mir kotzübel.«
    Â»Oh Pardon«, sagt Valentine. »Ich dachte, das heitert dich ein bisschen auf.«
    Valentines Hals ist rot angelaufen. Hastig zieht sie die Strickjacke über ihren Rolli. Der Ärmel bleibt an einem Knopf ihres Rocks hängen. Sie zerrt ­daran.
    Â»Wir brauchen uns nicht zu beeilen«, sage ich. »Immer mit der Ruhe. Wir haben jede Menge Zeit zum Umsteigen. Selbst wenn wir ganz langsam gehen, können wir unterwegs noch eine Pause machen.«
    Â»Man sollte lieber bereitsitzen.« Valentine nimmt ihren weißen Regenmantel. Einen kirschroten, karierten Schal bindet sie sich um den Hals. Der blaue Koffer steht rechts vor ihren Füßen, die Tasche mit der Verpflegung links. Das braune Lacktäschchen hält sie auf dem Schoß. Ihre Finger hinterlassen feuchte Spuren auf dem Leder. Sie lächelt verkrampft.
    Â»Kein Grund zur Aufregung«, beschwichtige ich. »Alles wird gut.«
    Â»Man kann nie wissen«, sagt Valentine und verändert mühsam ihre Sitzhaltung. »Ich laufe nicht so schnell wie du. Du siehst nicht, was hinter dir passiert, aber ich schaue immer auf deinen Rücken.«
    Â»Ich bleibe neben dir«, sage ich und klopfe ihr auf die Knie. »Ich trage deine Sachen.«
    Â»Gott gibt uns zwar Nüsse, aber er knackt sie nicht für uns.« Valentine starrt vor sich hin.
    Â»Nein, und deshalb hat Gott dir mich gegeben. He«, ich zwicke sie in den Arm, »ich bin doch deine große Schwester? Ich knacke die Nüsse für dich.«
    In Köln pflanze ich Valentine auf eine Bank in der Nähe von Gleis 13a.
    Â»Siehst du«, sage ich, »alles klappt. Unser Zug fährt erst in zwanzig Minuten ab. Bleib sitzen, dann geh ich noch mal schnell aufs Klo.«
    Als Valentine Anstalten macht, auch aufzustehen, schiebe ich sie zurück. »Pass du nur auf das Gepäck auf.« Ich zeige an die Decke der Überdachung. »Da hängt die Uhr. Wir haben alle Zeit der Welt.«
    Mit kräftigem Schritt laufe ich an den Zeitungsständen vorbei, an Karren mit von der Hitze geplatzten Bratwürsten, glänzenden Brezeln mit glitzernden Salzkristallen, Regenbogengirlanden mit aufgereihten Seifenstücken in Plastik und Etuis mit Minizahnbürsten und Minizahnpasta. Stimmen schallen aus den Lautsprechern, unverständliches Geplärre, wenn ein Zug in den Bahnhof donnert. Männer mit wehenden Rockschößen rennen zu einem bereitstehenden Zug. Ich überhole Frauen auf Pfennigabsätzen, und für einen Moment schwimme ich mit einer Klasse plappernder Jungen und Mädchen mit, dreizehn, vierzehn Jahre alt, die Gesichter von der Sonne gebräunt, die moosgrünen, braunen und schwarzen Rucksäcke mit Plastikgeschirr auf den Rücken gebunden, die Wanderschuhe hoch geschnürt.
    Ich laufe auf ein klares, aber undefinierbares Ziel zu. Ich bin keine Fremde hier. Ich bin kein Tourist. Ich habe ein Ziel. Ich bin beruflich hier. Ich bin eine Fachfrau. Ich gehöre hierher. Ich fürchte mich vor keiner Weltstadt. Die Welt ist mein Habitat. Ich bin in jeder Situation zu Hause und finde mich überall zurecht.
    Das ist schon so, seit Papa mich kurz vor dem Krieg in Holland zurückließ, weil es dort eine Zukunft gab. »Nicht in Deutschland«, sagte er. »In Deutschland geht es mit Hitler in die völlig falsche Richtung. Jeden Mann, den du dort heiratest, siehst du in zwei Jahren nur als Grillwurst wieder.«
    Papa

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