Fallkraut
Miser« anstimmen. Ich muss zurück an meinen Platz, bevor ich zu spät bin.
Ich richte mich auf, stolpere zwischen Instrumenten und Notenständern hindurch, schnell, wo ist mein Stimmenauszug? Ich stoÃe ein Pult um, rutsche auf dem Saum eines Kleides aus.
Die Pauken hören auf, das Gewitter verebbt, und mein Fliegenauge ist wieder ein gewöhnliches Menschenauge, blau mit einem leichten Grünschimmer, das Auge von Sigrid Raffelsberger, Konzertmeisterin des Philharmonischen Orchesters Overijssel. Ich bin zu spät.
Das Deckbett lastet schwer auf mir. Ich bin schweiÃgebadet. Ein kühles, graues Licht lugt durch die toffeefarbenen Vorhänge. Halb fünf, schätze ich. So kalt ist das Licht, wenn die Sonne gerade die Nacht ablöst.
Ich muss versuchen zu schlafen.
Valentine liegt zwei Meter entfernt. Ihr Kopf ist vom Kissen gerutscht, ich sehe Feuchtigkeit in ihrem Augenwinkel glänzen, ihr Mund ist offen. Aus Valentines Kehle steigt ein rhythmisches Geröchel auf.
Ich hatte vergessen, wie laut Tine schnarchen kann, mit einem sonoren Geräusch in der Mitte und einem schrillen Pfeifen am Ende jedes Atemzugs. Darum stopfte sich Karel Watte in die Ohren. Darum trottete er nachts zum Sofa. Darum versuchte er es später nicht einmal mehr neben Valentine und stellte sich ein Bett auf den Dachboden. Und Valentine beklagte sich in einem fort über Karels mangelnde Aufmerksamkeit für sie.
Säuselnd kommt mein Kopf in Gang. Man kann auch etwas dagegen tun. Man kann sich helfen lassen, so wie mein Nachbar. Huib van de Goorberg hat sich seine Nasenscheidewand entfernen lassen und ist sechs Wochen lang mit einem Wahnsinnsverband über dem Gesicht herumgelaufen. Aber danach, sagte seine Frau, war alles wieder ruhig im Schlafzimmer. Obwohl Huib van de Goorberg Angst hatte vor den Spritzen und dem Skalpell, das in seine Nase schnitt.
Valentine auch. O ja. Valentine hat Angst. Also unternimmt sie nichts.
Ich drehe mich auf die andere Seite. Mein Nachthemd klebt zwischen meinen Beinen. Ich kontrolliere meine Zunge. »Ihre Zunge muss wie ein schlaffes Stück Fleisch am Haken hängen«, meint der Hausarzt. Er sagt, dass jede Entspannung bei der Zunge beginnt, und wenn es da nicht stimmt, strahlt es in den Nacken, die Arme, den Rücken und sogar in die Beine aus. Er gibt mir ein Rezept für Valium. Drei dieser schneeweiÃen Tabletten schlucke ich abends runter, und trotzdem hämmert mir das Herz noch in der Kehle, und ich zähle die Stunden, die verstreichen. Warum kann ich so etwas Kompliziertes wie Geige spielen, mich aber nicht dem Schlaf hingeben, etwas, das selbst die Tiere im Stall können?
Gott, was Valentine für einen Lärm macht. Wie konnte ich nur so dumm sein, meine Ohrstöpsel zu vergessen?
Ich schlage die Beine über die Bettkante und stütze den Kopf in meine Hände. Valentine spitzt die Lippen und schmatzt, als würde sie einen Schnuller suchen.
Ein paar Minuten ist es still, dann geht das Geröchel wieder los. Meine Uhr zeigt halb sechs an.
Ich habe sie verloren: die Vision müheloser Perfektion. Wenn ich mir die Zähne putze und im Spiegel mein eingefettetes Gesicht betrachte, dann weià ich, dass sich etwas verändert hat. Doch sobald ich versuche zu überlegen, was das sein könnte, zieht ein Schleier vor meine Augen, und es ist, als ob meine Ohren voll Wasser laufen. Dann lasse ich die Zahnpasta aus meinem Mund rinnen, drehe den Hahn zu, reibe mir das Gesicht trocken und schlurfe auf meinen Pantoffeln aus dem Badezimmer, die Hand auf der Stelle unten an meinem Rücken, wo es wehtut.
Konzerte, üben, unterrichten, mit dem Jugendorchester proben, meine eigenen Proben â ich bin kein Konzertmeister oder Solist, der nur ein bisschen für sich selbst glänzt. Wenn die Klarinette mit ihrem Solo einsetzt, und ihre Intonation ist etwas zu tief, dann gehe ich mit, zusammen mit den Cellisten und den anderen Geigern. Und wenn ich acht Celli und vierzehn Geigen anführe, die nicht ganz sauber spielen, auch dann muss ich folgen. Dann kann ich nicht als Einzige sauber tun. Dann muss ich mit, dem Abgrund entgegen.
Ich denke noch manchmal daran, an das absolute Gehör, auf dem Papa immer herumritt. Ãbte ich im Kohlenkeller, stand er auf einmal hinter mir.
»Hörst du denn nicht, dass du kein reines Es spielst? Hörst du denn nicht, dass du einen Tick zu tief bist?«, rief er.
Dieser »Tick«, fand
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