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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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täglich üben, sonst verlernt sie die Kunst. Was meinen Sie: Das ist doch ein Problem, wenn man in einem Hotel übernachtet, die anderen Gäste warten bestimmt nicht auf dieses Gefiedel.«
    Meine Worte verwehen im Wind. Der Fährmann ist schon weitergelaufen zu den Schlagbäumen. Dort bleibt er stehen und schaut, wie das Ufer langsam näher kommt.
    Zurück in unserem Hotelzimmer, falte ich meine ­Unterhosen, vorgeformten Hemden und BH s zusammen und lege sie in eine Schublade. Ich hole meine Schuhe aus der Tasche und stelle sie nebeneinander unten in den Schrank. Für jede Witterung habe ich zwei Paar dabei.
    Das ist zu viel, hat Sigrid zu Hause am Telefon gesagt. Aber Sigrid labert. Guck, es ist noch genug Platz im Kleiderschrank.
    Ich schließe die Tür, schiebe den leeren Koffer unter mein Bett und hole meine Patience-Karten hervor. Ich mische, doch die Karten fallen mir aus den Händen.
    Dussel, pass auf.
    Noch einmal.
    Dreimal muss ich mischen, ohne Karten zu verlieren, dann geht die Partie auf.
    Mischen, der zweite Talon, ohne zu kleckern.
    Ich darf nicht an Mama denken, die mich morgens mit einem Streicheln über die Wange weckt. »Komm, Tinchen, ich habe Brot gebacken, es ist jetzt noch warm, komm, dann kriegst du das leckerste Stück, das Ränftchen.«
    Â»Leise«, sagt Mama, »sonst wird Sigrid wach.«
    Mischen, der dritte Talon, ohne zu kleckern. Wenn Sig­rid nur mal den Mund halten würde. Was labert sie da über diese Geige und das Orchester? Dass der neue Dirigent sie immer wieder von vorn anfangen lässt? Obwohl sie schon drei Stunden Probe hinter sich hat, und ihre Schultern und ihr Nacken sich anfühlen, als wäre jemand mit einem Bügeleisen darüber gegangen.
    Diesem Arschloch zufolge spielt sie Brahms zu schmalzig.
    Sigrid spielt auch schmalzig, und Brahms darf man eben gerade nicht schmalzig spielen. Brahms muss transparent sein.
    Â»Nimm doch mal deine Geige«, schlage ich vor, »und spiel ein Stückchen Brahms für mich. Dann kann ich hören, ob es stimmt, was dieser Krüske sagt. So spät ist es noch nicht, dass die Nachbarn schon schlafen.«
    Nein, darauf hat die Labertante keine Lust. Sie ist müde, hat Kopfschmerzen oder, was weiß ich, was mit ihr los ist. Egal. Das wird eine schöne Runde Patience. Ich habe dreimal, ohne zu kleckern, gemischt, diese Partie wird sicher aufgehen.

5 Sigrid
    Linoleum klebt an meiner Wange. Kälte kriecht hoch, mein Bauch, mein Hals, meine Ohren stechen. Ich schiebe den Kopf tief unter meine Arme. Warum schlagen die Menschen Nägel in meine Trommelfelle?
    Ich höre eine Stimme: »Mach die Augen auf!«
    Die Muskeln in meiner Iris ziehen sich zusammen, die Pupille verengt sich, die Linse wölbt sich vor. Mein Auge verwandelt sich in das Teleskopauge einer Fliege. Da ist der Absatz eines Schuhs, mit einer winzig klein ausgefransten Stelle Leder. Ich rieche Schuhcreme und einen Hauch von Straßendreck. Da ist die Spitze eines Schuhs, die ein silbernes Pedal herunterdrückt.
    Bevor die Dezibel meine Trommelfelle zerreißen, muss ich verschwunden sein. Ich traue mich nicht, ich möchte mein Gesicht vergraben, wie Mama es immer machte. Mama presste nachts ihr Gesicht an Valentines Rücken. Sie tat es, wenn Tine schlief und sie dachte, dass niemand es sähe. Aber ich schon, ich sah sie zusammen.
    Zehn Paar Schlägel gehen in die Luft und landen auf Paukenfellen. Lieber Gott, verhüte, dass ich falle, und wenn ich auseinanderfalle, dann kleb mich fest, so wie dieses Linoleum am Betonboden festgeklebt ist.
    Kalbsleder kommt in Bewegung. Tierhäute vibrieren. Schallwellen breiten sich fächerförmig zum Rand aus, wo das Fell am Metallkessel angenagelt ist. Meine Haut wird in Holz gehämmert. Meine Schläfen sind zwischen den Becken eingeklemmt. Mein Brustkorb wird mit einer Kohlenschaufel auseinandergerüttelt. Zähne bröckeln mir aus dem Mund, so kräftig schlagen die Pauker.
    Das Requiem von Berlioz.
    Warum sitze ich nicht auf meinem eigenen Platz bei den Streichern? Wo ist Caravan-Kees, wo Timo, wo ­Johan? Was mache ich hier zwischen den Pauken? Ich fasse mir an die Beine: grober Cord, eine Hose. Warum trage ich nicht mein schwarzsamtenes Abendkleid, warum habe ich meine Perlen nicht um und die Gehänge aus Blutkorallen in den Ohren?
    Das Orchester spielt das »Dies Irae«, und der Chor wird gleich das »Quid Sum

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