Fallkraut
das ist dann meistens nicht das letzte Mal an so einem Tag.
»Ich brüte über gar nichts«, antworte ich. »Hau dich wieder aufs Ohr.«
»Bei diesen Hunden?«, fragt Valentine. Sie klopft auf das Bett. »Komm.«
»Was, âºkommâ¹?«
»Leg dich zu mir.«
»Das passt nicht.«
»Natürlich.« Sie schlägt das Deckbett zurück.
Wieder bellen die Hunde. Eine Tür schlägt, auf dem Hof ertönen Schritte, ich höre einen Anraunzer, einen Eimer Wasser, der ausgeschüttet wird, Gejaule. Dann wird es still.
Valentine dreht sich auf die Seite und klopft sich auf den Po. »Komm«, sagt sie noch einmal.
Ich humpele mit meinem schmerzenden Knie zu dem Bett und rücke an Valentines Hintern heran. Ich schmiege meinen Bauch, meine Arme und Beine um ihr warmes Fleisch. So dicht wie möglich, um die harte Bettkante nicht zu spüren. Ich schaue durch meine Wimpern auf den rosa Flanellrücken von Valentine.
So viele Fusseln. So sanft. So Schwester.
Mein Bauch wird warm. Tine ist bei mir. Tine sorgt für mich. Tine richtet behutsam die Dinge um sich herum, und die Dinge sind harmonisch und im Gleichgewicht.
»Erzähl mir eine Geschichte von früher«, bitte ich schläfrig.
Valentine bewegt sich. »Eine Geschichte von früher? Aber ich kenne keine. Ich habe alles von früher vergessen.«
»Du lügst«, murmele ich.
»Schlaf nur, Schweinchen. Es ist noch früh.«
Im Sommer stand das Dachfenster offen, und der aromatische Geruch des Fallkrauts wehte herein.
Das Fallkraut um Sonnenberg ist bis obenhin voller Gift. Fallkraut hilft gegen Beschwerden wie zum Beispiel Schmerzen in der Brust, Muskelkater, offene StoÃwunden und Prellungen.
Aber man durfte nicht hineinfallen, wie ich. Dann bekam man Blasen von dem Kraut.
Im Sommer blieb es hell zwischen den Balken über meinem Kopf, und ich konnte vom Bett aus die Spinngewebe an der Decke glänzen sehen. Im Sommer hörte ich das Vieh die Bergweiden hinauflaufen, auf der Suche nach einem kühlen Fleck. Die Hufe klapperten dumpf auf dem ausgetrockneten Boden. Im Sommer schlief ich zum verträumten Muhen der Kühe ein, zum leisen Geklingel der groÃen und kleinen Glocken um ihre Hälse, und manchmal zu den Stimmen von Papa und Mama auf der Bank unter dem Walnussbaum.
Aber im Winter war es etwas ganz anderes. Im Winter war es stockdunkel auf dem Dachboden, und die Lampe neben meinem Bett zauberte gruselige Schatten auf die Balken im First. Im Winter fiepten die Dachsparren wie die jungen Kätzchen, die der Knecht von Bauer Kramer in einem Wassereimer ersäufte. Im Winter knarrten die Wände vom Frost, und ich hatte Angst, dass hinter der Schornsteinklappe der Kaminkehrer mit seinen Scharen hervorkommen und mich in das schwarzgesengte Rohr hineinziehen würde. Im Winter klammerte sich der Frost an meine Beine und kroch an meinem Bauch hoch, über den Brustkorb zum Hals und ins Gesicht. Ich zog mir die Daunendecke bis an die Augen.
Valentine keinen halben Meter von mir entfernt. Eine Wand zwischen uns.
Ich feuchtete den nach Pilzen riechenden Kalk der Wand mit Spucke an und kratzte, bis ich eine Mulde in Höhe meines Mundes hatte. Daran klebte mein Atem fest, dahinein murmelte ich Worte, und wenn ich nicht murmelte, dann klopfte ich mit einem Steinchen: Schläfst du schon, Tine?
Ãber meinem Kopf heulten die Bäume, und die Zweige der Walnuss tippten ans Dachfenster. Der Baum vertrieb im Sommer die Mücken um das Haus. Aber im Winter verwandelte er sich in ein Gerippe mit Ãsten, zwischen denen sich die Hexen die Haare kämmten.
»Nein«, antwortete Valentine jedes Mal, »ich schlafe noch nicht.«
Ich sprang aus dem Bett, rannte um die Wand herum zu Tines Bett.
»Du schon wieder?«, murrte sie, aber sie schlang ihre Beine um meine Knie, nahm meine Hände und wärmte sie an ihrem Bauch. »Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein«, flüsterte sie, als ob sie die ältere von uns beiden wäre und nicht ich. Tine auf einer Seite der Wand und ich auf der anderen Seite.
Ich lag mit dem Bauch an ihrem Rücken und drückte meine Nase in ihr Haar. Ich roch Babyseife und einen Geruch von Mäusen vermischt mit Vanille. Ich bewegte mich im Rhythmus von Tines Atemzügen mit, die schon bald langsam wurden und tief. Auch ich schlief ein und erwachte erst, als die Kirchenglocken acht Uhr schlugen.
Unser
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