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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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und folgen dem Schild »Zentrum«. Hier ist weniger Verkehr, und die Läden beginnen. Wir bewundern die Torten in der Konditorei, gehen die Rezepturen von Valentines Kirsch- und Sachertorte durch und kaufen uns jede ein Erdbeereis mit Vanille. Bei einem Modegeschäft inspizieren wir die Ständer mit preisgesenkten Sommerkleidern bis Größe 60, aber es ist nichts elegant Geschnittenes dabei. Valentine kauft in einem Souvenirladen eine kleine Kuhglocke an einem roten Band und zwei Ansichtskarten mit Briefmarken.
    Â»Eine für meinen Otto und eine für dich, die kannst du Sjors schicken«, sagt sie.
    Danach ist Valentine müde. »In diesen Ballerinas läuft es sich doch nicht so gut.«
    Â»Dann setz dich in dieses Straßencafé und schreib Karten«, schlage ich vor. »Und ich schaue allein mal eben auf einen Sprung in die Kirche.« Ich blicke auf die Uhr. »In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier. Dann trinken wir noch was und gehen auf dem Weg zum Hotel an einem guten Schuhgeschäft vorbei.«
    Â»Findest du es wirklich nicht schlimm, wenn ich hierbleibe?«, fragt Valentine.
    Sie hat sich schon auf einen Terrassenstuhl fallenlassen und schnauft wie ein Walross.
    Im Gegenteil.
    Ich steige den Oberweg zu einer weiß verputzten Kirche hinauf, die blendend im Sonnenlicht strahlt. An der Kirchentür ist mit einer Reißzwecke ein Zettel befestigt: »Geschlossen. Schlüssel zu erfragen im Oberweg 15.« Ich stemme mich gegen die massive Tür, die mühelos aufschwingt.
    Drinnen hängt ein durchdringender Geruch von Weihrauch, Holz, Schimmel und nassen Jacken. Ich niese. Es ist hier so kühl nach der Wärme draußen, dass mir die Haare auf den Armen zu Berge stehen. Ich hole eine Strickjacke aus meiner Tasche und lege sie mir um.
    Durch die hohen, schmalen Fenster in den rechten Seitenschiffen fallen Lichtlachen herein. Die schwarzen Steine auf dem Fußboden glänzen matt. Tausende Staubteilchen tanzen umher. In so eine Lichtlache stelle ich mich.
    Ich sehe einen riesigen Holzaltar, in der Mitte eine träge Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Auf den Seitenflügeln etwas, das wie Heilige und Märtyrerinnen ausschaut. Das Mittelschiff der Kirche ist so groß, dass ein halbes Dorf hineinpasst. Es gibt eine reich geschnitzte Kanzel und vergoldete Kerzenständer, so hoch wie ein Bushäuschen. Ich sehe Kronleuchter und eine riesige Orgel. Aber was ich vor allem sehe, ist Raum. Alles atmet Raum, sowohl in der Höhe als auch in Länge und Breite. Und ich atme mit. Ich komme davon ins Schwitzen.
    In Gedanken sehe ich Valentine durch die Querschiffe laufen. Valentine, die alle Gemälde der Passionsgeschichte an der Kirchenwand genau betrachten und am Altar auf die Knie sinken und sich bekreuzigen würde. Ich fühle mich wie eine Fremde neben meiner Schwester.
    Â»In Gottes Namen«, würde ich zu Valentines Rücken sagen, »ich weiß, dass alles wieder furchtbar schwer gewesen ist im vergangenen Jahr. Auch für mich. Aber deshalb brauchst du doch nicht so dramatisch zu tun. Komm, steh auf.«
    Weite, sage ich zu mir selbst. Weite in Bewegung und Geist. Na los. Mach dich breit. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest.
    Plötzlich höre ich eine Stimme hinter mir.
    Â»Es kommen nur wenige Touristen hierher. Die Menschen interessieren sich nicht mehr für das Leiden und das Opfer.«
    Â»Oh«, sage ich, drehe mich um. »Es tut mir leid.«
    Â»Was tut Ihnen leid?«, fragt der Mann, denn es ist ein Mann, auch wenn er mindestens einen Kopf kleiner ist als ich. »Dass nur noch so wenige Menschen in die Kirche kommen? Sie können spenden. Das Geld geht an die hungernden Kinder in Biafra.«
    Der Mann schüttelt einen braunen Baumwollbeutel mit ledernem Schnürband vor meiner Nase. Seine Zähne sind braun vom Kaffee.
    Â»Nein«, antworte ich, »ich meine eigentlich: Es tut mir leid, dass ich einfach so eingetreten bin. Die Tür ging auf und …«
    Der Mann unterbricht mich. »Was tut Ihnen leid?« Er blickt mich durchdringend an.
    Jetzt erst fällt mir auf, dass der Mann nur ein Bein hat. Warum belauert der Kerl mich so? Warum habe ich ihn nicht gehört? Dann hätte ich weglaufen können. Was interessiert mich diese ganze Kirche? Diese Kirche war nur ein Vorwand, um einen Moment von Valentine erlöst zu sein, mal zu mir zu kommen.
    Â»Nichts«,

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